Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
nicht der Dummkopf war, für den sie ihn damals hielten. Er war schwach und unglücklich. Aber er war gescheiter als sie. Und jetzt setzte Igor seine ganze Hoffnung auf ihn. Ravil würde die Sache sofort durchschauen, er würde eine Erklärung finden und Igor beruhigen. Es konnte nicht, sein, daß alles so war, wie es zu sein schien. Es durfte nicht sein!
Am nächsten Tag stürzte Igor zu Onkel Schura-Tatarin. Als er dessen Wohnung nach einer halben Stunde wieder verließ, wußte er, daß alle Hoffnung dahin war. Auch Ravil war nicht mehr am Leben, und seine Frau Rosa, die mit einem kleinen Kind zurückgeblieben war, bekam jeden Monat Geld von einem Unbekannten. Ziemlich viel Geld, hatte Onkel Schura gesagt, es sei eine große Hilfe für Rosa. Offenbar habe sich ein guter Mensch gefunden, wahrscheinlich jemand aus Ravils Bank, alle dort Angestellten waren gut situierte Leute, wie Onkel Schura meinte, und es sei ja keine Sünde, einem armen Mädchen zu helfen, das ins Unglück geraten war.
Doch Igor wußte mit Bestimmtheit, daß es hier nach nichts weniger roch als nach Mildtätigkeit. Für den naiven Onkel Schura war das Wort »Bank« untrennbar mit dem Wort »Wohlstand« verbunden, und Wohlstand war für ihn gleichbedeutend mit Edelmut. Aber Jerochin ließ sich nicht täuschen. Bank – das bedeutete Geld, und er wußte nur zu gut, daß Geld einherging mit Bosheit, Habgier und Grausamkeit. Und von wohlhabenden Leuten konnte bei den Mitarbeitern dieser Bank ohnehin keine Rede sein. Eine ganz gewöhnliche, staatliche Sparkasse. Dort arbeiteten dieselben armen Schlucker wie überall. Aber wie sollte der alte Tatare mit fünf Klassen Schulbildung das verstehen!
Die Witwe bekam das Geld natürlich vom Mörder ihres Mannes. Das bedeutete, daß dieser Mann überzeugt war von der Gerechtigkeit seiner Sache und daß er sie konsequent verfolgte. Igor Jerochin war der letzte der vier, an dem Vakar sich für das einstige Verbrechen rächen würde. Er hatte nicht umsonst so viele Jahre gewartet, nicht umsonst so lange Geduld gehabt. Jetzt würde er sein Vorhaben unweigerlich ausführen, was immer ihn das kosten würde.
Als Igor am Abend nach Hause kam, empfand er zum ersten Mal in seinem Leben wirkliche Angst. Das war nicht einmal nur Angst, das war Grauen, das Grauen vor dem Unvermeidbaren, das den Menschen auf heimtückische Weise willenlos macht, ihm Ergebung einflüstern und dazu verleiten will, willfährig auf sein Ende zu warten. Igors erster Gedanke war, sich bis zur Besinnungslosigkeit zu betrinken, um diesem Grauen wenigstens für kurze Zeit zu entfliehen. Doch es gelang ihm, seine Schwäche zu überwinden. Gegen Morgen, nachdem er sich die ganze Nacht schlaflos im Bett gewälzt hatte, war er zu dem Schluß gekommen, daß er seinem Gegner zuvorkommen mußte. Er, Igor Jerochin, würde es nicht zulassen, daß man ihn umbrachte. Er würde als erster zuschlagen. Wenn es Vakar gelungen war, drei Menschen zu ermorden, ohne gefaßt zu werden, dann war es offensichtlich, daß bei der Miliz niemand eine Verbindung zwischen diesen drei Morden und jener alten Geschichte herstellte. Und wenn es so war, dann würde man auch Vakars Mörder nicht unter denen suchen, die vor langer Zeit seinen Sohn umgebracht hatten. Und niemand würde jemals etwas erfahren . . .
5
Wladimir Sergejewitsch Vakar hatte die Prüfungsergebnisse in die Unterrichtsabteilung gebracht und wollte soeben auf den Korridor hinaustreten, als er hinter sich eine Stimme vernahm. Veronika, die Lehrerin für Methodik, war erstaunt.
»Ist das die Möglichkeit? Sie haben heute nur eine einzige Fünf gegeben. Was ist los mit Ihnen, Wladimir Sergejewitsch?«
Vakar war in der ganzen Generalstabsakademie dafür berühmt, daß er keinerlei Unwissen in seinem Unterrichtsfach duldete und seine Prüflinge mit äußerster Strenge beurteilte. Alles blieb bei ihm wirkungslos. Protektion, Schmeichelei, Geschenke.
Es gibt Berufe, bei denen Unwissen zu fatalen Folgen führt, pflegte er zu sagen. Das gilt vor allem für Ärzte, Ingenieure und Militärs. Wenn ein Fehler, den man macht, Menschen das Leben kosten kann, dann hat man kein Recht auf Fehler.
Er geizte nicht mit Fünfern und verbot kategorisch, eine nicht bestandene Prüfung bei einem anderen Lehrer zu wiederholen. Wenn so etwas doch vorkam, wenn es einem findigen Studenten gelang, durch Professor Vakars Maschen zu schlüpfen und die Prüfung bei einem anderen Lehrer abzulegen, fand Wladimir Sergejewitsch unweigerlich
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