Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
Reißverschluß.
»Und wer ist Tante Rosa?« fragte er.
»Rosa ist die Tochter von Tante Nurija und Onkel Schura-Tatarin. Kennen Sie Rosa nicht? Das ganze Haus kennt sie. Sie hat immer die obdachlosen Hunde gefüttert. Sie ist so gut, ein Mensch mit einem goldenen Herzen.«
Igor mußte sich das Lachen verkneifen. Aus dem Mund des Mädchens klang das schrecklich komisch. Natürlich erinnerte er sich bestens an Onkel Schura-Tatarin und an seine Tochter. In Wirklichkeit hieß er Scharafetdin, aber die Nachbarn hatten seinen tatarischen Namen schnell auf einen einfachen russischen Nenner gebracht und Schura daraus gemacht. Er war ein sehr geschickter Handwerker und schlug nie jemandem eine Bitte ab. Er half seinen Nachbarn immer mit großer Bereitwilligkeit, und in dem riesigen Wohnhaus gab es keinen einzigen Menschen, der nicht wußte, wer Schura-Tatarin war. Er hatte eine stille, immer schwangere Ehefrau namens Nurija und ein ganzes Rudel Kinder, deren jüngstes Rosa war. Rosa war verrückt nach Tieren, sie pflegte kranke Vögel und fütterte herrenlose Hunde und Katzen. Sie war zwei Jahre jünger als Ravil, und seit jeher wurden die beiden tatarischen Kinder »Braut und Bräutigam« genannt. In Wahrheit fiel Ravil das Mädchen zum ersten Mal auf, als er aus der Besserungsanstalt zurückkehrte. Da war er siebzehn und sie fünfzehn.
»Du weißt nicht zufällig, wo Ravil jetzt wohnt?« fragte Igor das gesprächige Mädchen.
»Nein. Mein Papa weiß es, aber er kommt erst abends nach Hause. Kommen Sie abends noch mal vorbei, mein Papa sagt es Ihnen.«
»Ich danke dir, Schwesterchen.«
»Bitte«, sagte das Mädchen mit gewichtiger, würdevoller Miene.
4
Und wieder hatte Igor Jerochin eine schlaflose Nacht. Am Vorabend war er in das Haus zurückgekehrt, in dem das ulkige, gesprächige Mädchen wohnte, und hatte von dessen Eltern die neue Adresse bekommen, obschon nicht die von Ravil, sondern die von Rosas Eltern. Es stellte sich heraus, daß an dem Wohnungstausch beide Familien beteiligt gewesen waren, sie hatten ihre zwei Dreizimmerwohnungen gegen drei Zweizimmerwohnungen getauscht, und so hatten die jungen Leute eine eigene Wohnung bekommen. Doch Schura-Tata-rin, der lange Zeit in dem Haus gewohnt hatte, hatte allen Hausbewohnern zum Abschied seine neue Adresse dagelassen und darauf bestanden, sich bei irgendwelchen Pannen oder Schäden in den Wohnungen nur an ihn zu wenden.
Es war schon zu spät gewesen, um noch zu Rosas Eltern zu fahren. Igor verschob den Besuch auf den nächsten Tag und verbrachte eine schlaflose Nacht. Er suchte ruhelos nach einer Erklärung für die seltsame Tatsache, daß zwei seiner Freunde umgekommen waren und er mehrmals dem Vater des ermordeten Jungen begegnet war. Manchmal gelang es ihm, zu einer sehr einfachen, harmlosen Interpretation zu kommen, für ein paar Minuten wurde er ruhiger und atmete erleichtert auf. Doch seine Gedanken kreisten weiter, und bald schon erschien ihm die gefundene Erklärung an den Haaren herbeigezogen, sie kam ihm künstlich und dumm vor, während der andere, sich immer mächtiger aufdrängende Gedanke der einzig richtige zu sein schien. Aber Igor wollte es nicht glauben, er stellte sich immer wieder vor, wie er am nächsten Tag Ravil finden, wie er ihm alles erzählen und mit ihm zusammen lauthals über seine Ängste lachen würde.
Ravil war in ihrer einstigen Clique der weiße Rabe. Er galt als Musterschüler, als Streber, immer war er als erster mit den Deutschübungen fertig und kannte sich sehr gut in Geschichte aus. Er war ein schmächtiger, sensibler Brillenträger und suchte immer die Gesellschaft der breitschultrigen, trinkfesten Klippschüler, die auf der Toilette rauchten, über ein ansehnliches Repertoire saftiger Flüche verfügten und durch die Zähne spuckten. Sie schrieben die Hausaufgaben bei ihm ab, er half ihnen bei den Kontrollarbeiten in Physik und Mathematik, und dafür erlaubten sie ihm, sich ihnen anzuschließen. Sie brachten ihm bei, Wein zu trinken, Karten zu spielen und schmutzige Witze zu erzählen. Sie ließen ihn am »Erwachsenenleben« teilhaben, obwohl sie nicht älter waren als er. Gnädig erlaubten sie ihm, ihnen dabei zuzusehen, wie sie unter Anleitung eines einstigen Schwerathleten, der sich um den Verstand gesoffen hatte, Gewichte stemmten. Ravil vergötterte sie. Er betete sie an. Er war zu allem bereit, um ihre Anerkennung zu erlangen.
Jetzt, viele Jahre später, begriff Igor Jerochin plötzlich, daß der kleine Ravil
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