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Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen

Titel: Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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damals.
    »Guten Tag, Omachen«, rief Igor munter. »Erinnern Sie sich noch an mich?«
    »Schrei nicht, Söhnchen«, antwortete die Alte mit überraschend ruhiger und überhaupt nicht greisenhafter Stimme. »Ich bin zwar blind, aber nicht taub. Was willst du?«
    »Ich bin Igor Jerochin. Ich bin mit Nikolaj in eine Klasse gegangen? Erinnern Sie sich?«
    »Natürlich erinnere ich mich an dich, Igor Jerochin, sehr gut sogar. Worum geht es?«
    »Ich möchte Nikolaj sprechen«, sagte er und fühlte sich plötzlich eingeschüchtert. Er hatte einfach nicht erwartet, daß die Großmutter so gut hörte und sich auch noch an ihn erinnerte.
    Die Alte schwieg einen Moment, dann sprach sie zwei leise, unverständliche Worte.
    »Ich auch.«
    »Wohnt er denn nicht mehr hier? Ist er umgezogen?«
    »Ja, er ist umgezogen«, seufzte die Alte, »an einen sehr fernen Ort.«
    »Können Sie mir die Adresse geben?«
    Sie drehte sich um und verschwand schweigend im Innern der Wohnung. Jerochin blieb unentschlossen vor der Tür stehen, er wußte nicht, ob er der Alten folgen sollte oder nicht. Nach einer Minute kam sie zurück, sie wischte mit einem Taschentuch an ihren Augen herum.
    »Was willst du von Nikolaj?« fragte sie streng.
    »Ich wollte ihn sehen. Wieso? Ist es nicht erlaubt? Wir waren immerhin Freunde.«
    »Du wirst ihn schon noch früh genug sehen, du brauchst dich nicht zu beeilen. Wenn es soweit ist, wirst du ihn sehen«, sagte die Alte traurig.
    »Ist er etwa im Gefängnis?«
    »Wenn es nur so wäre! Aber dort ist er auch nicht. Nikolaj ist im Jenseits«, antwortete sie leise und begann zu weinen. »Man hat ihn voriges Jahr umgebracht.«
    »Wer hat ihn umgebracht?« fragte Igor krampfhaft schluckend. Sein Mund wurde trocken, und seine Knie begannen zu zittern.
    »Woher soll man das wissen?« seufzte die Alte. »Er war ein Lump und ist einer geblieben. Angeblich hat er Geld erpreßt. Sie waren viele, eine ganze Bande. Ständig haben sie irgendwas untereinander aufgeteilt, Märkte, Geschäfte, ich habe es nicht verstanden. Ist es nicht egal, wer ihn umgebracht hat? Er ist nicht mehr da, das ist das Entscheidende. Warum und wieso — das ist Gottes Wille. Geh wieder, Söhnchen, quäl meine Seele nicht!«
    Igor ging zum nächsten Häuserblock, und während er sich dem Haus näherte, in dem einst Ravil Gabdrachmanow mit seinen Eltern gewohnt hatte, begriff er, daß er Angst hatte. Jura Oreschkin war ein Säufer, bei dem war alles klar. Kolja Sakuschnjak hatte Schutzgelder erpreßt, sein gewaltsamer Tod war ebenfalls der folgerichtige Abschluß des Lebens, das er geführt hatte, dazu kam, daß er ein heilloser Dummkopf war. Wenn sich jetzt herausstellt, daß Ravil gesund und am Leben ist, dachte Igor, dann ist alles halb so schlimm. Alles kann sich als Zufall erweisen, als ein verrücktes Zusammentreffen unglücklicher Umstände. Lieber Gott, mach, daß Ravil lebt!
    Auf Igors Läuten an der Wohnungstür öffnete niemand. Er wartete noch eine Weile, dann läutete er an der Nachbartür. Ihm öffnete ein kleines Mädchen in Schuluniform. An einem Fuß trug sie einen Hausschuh, der andere steckte noch in einem Stiefelchen, offenbar war sie gerade erst von der Schule nach Hause gekommen.
    »Guten Tag, Schwesterchen«, sagte Igor mit einem freundlichen Lächeln. »Sag mal, wohnen die Gabdrachmanows noch in Wohnung zweiundvierzig?«
    »Nein.« Das Mädchen schüttelte den Kopf. Es zerrte keuchend an dem verklemmten Reißverschluß des Stiefels herum. »In der zweiundvierzig wohnen die Petritschenkos, ihr Sohn ist zwei Klassen über mir, ich gehe jeden Morgen mit ihm zur Schule. Und Sie sind ein Freund von Onkel Ravil, ja?«
    »Genau, Schwesterchen, du bist ein kluges Mädchen«, sagte Jerochin, der plötzlich grundlos erfreut war. »Wo ist Ravil denn?«
    »Die sind umgezogen. Onkel Ravil hat Rosa geheiratet, und sie haben getauscht.«
    »Was haben sie gemacht?« fragte Igor verständnislos.
    »Sie haben einen Wohnungstausch gemacht, damit die jungen Leute getrennt von den Eltern wohnen können.«
    Die Kleine wiederholte mit ernsthafter Miene Wörter und Sätze, die sie von den Erwachsenen gehört hatte, aber sie machte es so natürlich, als sei sie selbst die Quelle aller Informationen über die Hausbewohner und über den ganzen Wohnblock.
    »Warte, so machst du den Verschluß kaputt«, sagte Igor lachend, während er das Mädchen amüsiert betrachtete. »Komm, ich helfe dir.«
    Er ging in die Hocke und öffnete geschickt den

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