Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen
auf.
»Was soll ich denn jetzt machen?« fragte er heiser, gegen die Tränen ankämpfend. »Ich kann meine Frau nicht verlassen, weil ich nicht auf Katenka verzichten kann. Ich kann es nicht. Aber wenn du mir nichts vormachst und Dascha mich wirklich liebt und das Kind zur Welt bringen will, dann muß ich wählen. Mein Gott, warum hast du mir das alles gesagt!« stöhnte er auf. »Ich will so sehr, daß man mich liebt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich es will. Für eine Frau, die mich liebt, würde ich alles opfern. Alles, bis auf meine Tochter. Ich habe nicht geahnt, daß ich eines Tages vor so einer Entscheidung stehen würde, denn ich war davon überzeugt, daß es die Frau, die mich liebt, nicht gibt auf der Welt.«
»Wie kann man so etwas im voraus wissen?« fragte Nastja leise. »Das Leben ist schön, weil es voller Überraschungen ist. Aber du hast dich dieser Schönheit beraubt, weil du dich für so klug und erfahren gehalten und alles im voraus berechnet hast. Ich kann dir keinen Rat geben. Du mußt das alles selbst entscheiden.«
»Aber ich weiß nicht, wie«, sagte er gequält.
»Ich weiß es auch nicht.«
Alexander verließ Nastja bedrückt, ja niedergeschmettert. Er war noch sehr jung, und moralische Entscheidungen waren immer schwer zu treffen. Während Nastja die Tür hinter ihm schloß, dachte sie daran, daß Geld den Menschen nicht erwachsener und weiser machte, im Gegenteil, es beseitigte Probleme, mit denen andere sich herumschlagen mußten, aber gerade dadurch wurden sie reifer und klüger. Es war, als würde man auch bei sehr geringer Kurzsichtigkeit ständig eine Brille tragen. Das Auge gab seine Aufgabe an die Brille ab, die Sehkraft verkümmerte, weil sie nicht mehr beansprucht wurde, und die Kurzsichtigkeit schritt voran.
3
Viktor Kostyrja folgte Dascha Sundijewa auf der gewohnten Strecke zwischen der Universität und ihrem Haus. Hat sie denn gar keine Angst, so spät allein nach Hause zu gehen, fragte sich Viktor verwundert, der das Mädchen wieder einmal durch die dunklen, schlecht beleuchteten Straßen »begleitete«: Überall Dreck und Matsch, man hätte nicht einmal rennen können im Notfall, ständig mußte man aufpassen, wo man seinen Fuß hinsetzte. Es war schon fast Mitternacht, und die Straßen waren menschenleer.
Das Mädchen wirkte heute nicht so gelassen wie sonst. Gewöhnlich ging es ohne Eile, nicht schnell und nicht langsam, ohne sich umzusehen. Nach Viktors Überzeugung war es ohne jeden Argwohn. Aber heute schien der Gang des Mädchens unsicher zu sein, irgendwie ungleichmäßig, so als wäre es beunruhigt. Obwohl der Grund dafür natürlich ganz einfach unbequeme Schuhe sein konnten oder eine schlechte Stimmung.
Viktor folgte Dascha in gebührendem Abstand, zum Glück hatte er beneidenswert gute Augen. Ein Auto, das mit großer Geschwindigkeit an ihm vorbeifuhr, bespritzte ihn mit schmutzigem Wasser, und er zischte ihm einen ebenso schmutzigen Fluch hinterher. Plötzlich erstarb sein Schritt. Der Wagen hielt mit quietschenden Bremsen direkt neben dem vor ihm gehenden Mädchen. Dascha beschleunigte ihren Schritt, doch aus dem Auto sprangen zwei bullige Typen heraus. Einer von ihnen packte Dascha von hinten am Nacken, der andere riß eine Pistole aus der Tasche und preßte den Lauf an den Bauch des Mädchens. Alles das geschah blitzschnell und völlig lautlos, Viktor hatte den Eindruck, Zeuge eines Stummfilms zu sein. Er preßte sich mit dem Rücken gegen eine Hauswand, um sich unsichtbar zu machen, und starrte reglos auf die Szene, die sich in einiger Entfernung abspielte. »Wir können keine Zeugen gebrauchen. Wenn du sie weiterhin verfolgst, wirst du zum Augenzeugen und landest ganz schnell auf dem Friedhof.« Er erinnerte sich nur zu gut an die Worte der Frau in dem roten Lederanzug.
Dascha wurde in den Wagen gezerrt, die Türen schlugen zu. Alles war vorbei.
Viktor wartete noch ein wenig, bevor er sich wieder in Bewegung setzte. Er ging nach vorn, zu der Stelle, von der Dascha soeben verschwunden war, zog eine Taschenlampe hervor und leuchtete auf den Boden. Dort war Blut. Ganz zweifellos war das Blut. Warum hatte er keinen Schuß gehört? Weil es eine Pistole mit Schalldämpfer war? Ja, wahrscheinlich. Eine schöne Geschichte . . .
4
Nastja spulte das Videoband erneut zurück und schaltete auf Wiedergabe. Warum ließ ihr die Szene beim Markt von Konkowo keine Ruhe? Sie sah sich die Aufzeichnung zum hundertsten Mal an und begriff nicht, warum
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