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Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen

Titel: Anastasija 02 - Der Rest war Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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unbeirrbar war. Es war ein verdammt anziehender Mann.
    Sie zwinkerte verwirrt mit den Augen und entdeckte vor sich wieder den kleinen, komischen Bokr in einem langen, durchnäßten grauen Mantel und in kanariengelben Söckchen. Der »Goldjunge« des Ed von Burgund.
    6
    Natürlich fanden sie ihn. Zwar nicht binnen vierundzwanzig Stunden, aber auch nicht erst nach einer Woche. Vier Tage nach Bokrs Unterredung mit Nastja tauchte der Mann wieder in der Nähe von Jerochin auf. Bokr selbst nahm sich der Sache an.
    Er folgte dem Fremden durch halb Moskau. Es war von Vorteil, daß das Beschattungsobjekt nicht das Auto benutzte, sondern die Metro. Bokr hielt das für einen ausgesprochenen Glücksfall, da er der Meinung war, daß das Verhalten eines Menschen in einem öffentlichen Verkehrsmittel sehr viel über ihn aussagte. Man konnte beobachten, ob er versuchte, bei der erstbesten Gelegenheit einen Sitzplatz zu ergattern, oder ob er lieber stehend fuhr; ob er während der Fahrt las, über etwas nachdachte oder einfach vor sich hin döste; ob er Frauen und alten Leuten den Vortritt ließ oder sich rücksichtslos durch die Menge boxte; ob er auf der Rolltreppe stehenblieb oder in Fahrtrichtung mitlief, besonders dann, wenn es nach oben ging; ob er die Münze für das Drehkreuz im voraus zur Hand hatte oder ob er an der ungünstigsten Stelle stehenblieb und langwierig in seinen Taschen zu wühlen begann, so daß die anderen Fahrgäste über ihn stolperten; ob er den zahllosen Bettlern in den Durchgängen etwas gab oder nicht; ob er bei den Zeitungs- und Süßwarenhändlern etwas kaufte – dies und vieles andere half Bokr dabei, das Psychogramm eines Menschen zu erstellen.
    Als er dem Mann zum ersten Mal in die Metro folgte, bemerkte Bokr, daß dieser keine Münze in den Schlitz des Drehkreuzes steckte wie alle andern, sondern dem Kontrolleur irgendein Dokument vorwies. Während der Kontrolleur seine Augen auf das Papier heftete, gelang es Bokr in Sekundenschnelle, den Namen Vakar und das Wort »Generalstab« zu entziffern. Auf der Rolltreppe stehend, die in gleichmäßigem Tempo nach unten fuhr, dachte er einen Moment nach und beschloß, sofort die Kamenskaja anzurufen, auch wenn das zur Folge hatte, daß er den Mann erst einmal wieder aus den Augen verlor. Der Name Vakar war so selten, daß man die Identität des Fremden höchstwahrscheinlich ohnehin über das Adressenbüro feststellen konnte, zumal er ein Angehöriger des Generalstabs zu sein schien. Und womöglich würde der Name der Kamenskaja auf Anhieb mehr sagen, als er durch aufwendige Beschattung je herausfinden konnte.
    »Vakar?« wiederholte Nastja nachdenklich, nachdem sie Bokr angehört hatte. »Vakar, Vakar . . . Ja, natürlich, Andrej Vakar, 1985. Er war elf Jahre alt, als er ermordet wurde. Ich kann mich gut an diesen Fall erinnern, weil ich damals gerade meine Stelle bei der Miliz angetreten hatte und alles noch ganz neu und aufregend war. Sollte der Mann womöglich sein Vater sein? Oder irgendein anderer Verwandter?«
    »Er ist um die fünfzig«, bemerkte Bokr, »aber das sieht man nur aus der Nähe. Er hat eine schlanke, sportliche Figur, einen federnden Gang, nimmt Treppen im Laufschritt. Aber an den grauen Haaren und den Falten erkennt man den Fünfziger.«
    »Ja, ich erinnere mich dunkel«, sagte Nastja, »obwohl ich gestehen muß, daß ich ihn damals, auf dem Twerskoj Boulevard, nicht sehr genau angeschaut habe. Er gab mir Feuer, ich bedankte mich, das war alles. Es ist richtig, daß Sie mich sofort angerufen haben. Trotzdem erwarte ich Sie heute abend bei mir.«
    Nachdem Nastja den Hörer aufgelegt hatte, stürzte sie sofort zum Safe und erinnerte sich im selben Moment, daß alle Fallanalysen der letzten zehn Jahre bei ihr zu Hause lagen. Sie hatte sie mitgenommen, um die Daten in den Computer einzugeben, und seitdem lag die berühmte graue Mappe mit den rosafarbenen Bändchen in der Schublade ihres Schreibtisches. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war halb drei, Knüppelchen würde ihr sicher nicht erlauben, jetzt schon nach Hause zu gehen, es gab noch viel Arbeit. Aber sie hatte auch keine Geduld, bis zum Abend zu warten. Was tun?
    Sie griff nach dem Telefonhörer, zum Himmel flehend, daß Ljoscha zu Hause war. Sie hatte Glück.
    »Ljoschenka, arbeitest du?«
    »Ja, ich arbeite, Genosse Major.«
    »Geh doch bitte mal in mein Verzeichnis.«
    »Da ist es«, antwortete er nach einigen Sekunden. »Und was jetzt?«
    »Jetzt klicke bitte ›Ermittlung

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