Anastasija 04 - Tod und ein bisschen Liebe
lange überlegt, welchen von ihnen ich heiraten soll. Deshalb war ich davon überzeugt, daß den Drohbrief einer der beiden anderen geschrieben hätte.«
»Haben Sie den Drohbrief aufbewahrt?«
»Ja, natürlich. Es war immerhin eine Erinnerung an meine einstigen Verehrer«, sagte sie und lachte dabei ungut auf.
Julia brachte das bekannte weiße Kuvert und zog ein in der Mitte gefaltetes Blatt Papier daraus hervor, auf dem derselbe Text stand wie in den anderen Drohbriefen.
»Schade«, sagte sie mit einem aufrichtigen Seufzer. »Er stammt also nicht von einem meiner Verehrer. Und ich hatte gedacht, einer von ihnen wollte mich zurückhaben . . .«
Nastja und Anton fuhren zur nächsten Adresse.
»Manchmal ist es schon komisch«, bemerkte Anton. »Das Ehepaar, bei dem wir gestern waren, hat sich gefreut, als sich herausstellte, daß der Drohbrief nicht aus ihrer nächsten Umgebung stammt. Und diese Julia bedauert es. Es ist zum Lachen.«
»Ja«, stimmte Nastja zu, obwohl ihr ganz und gar nicht zum Lachen zumute war. Es gelang ihr beim besten Willen nicht, hinter die Logik und den Plan des Mörders zu kommen, das machte sie nervös und bereitete ihr ständig Kopfzerbrechen.
Die nächste Frau, mit der sie sprachen, sah müde und niedergeschlagen aus. Nastja sah sich in ihrer Wohnung um und entdeckte keine Spuren, die auf die Anwesenheit eines Mannes schließen ließen, obwohl die Frau erst vor vier Monaten geheiratet hatte.
»Wegen dieses Briefes ist alles kaputtgegangen«, sagte die Frau irgendwie abwesend, während sie, an den Gästen vorbei, aus dem Fenster sah. »Jetzt ist es zu spät, noch darüber zu reden, es läßt sich nichts mehr richten. Mein Mann hat mir einfach nicht geglaubt.«
»War es Eifersucht?«
»Nein, eher war es Dummheit. Aber natürlich auch Eifersucht. Jedenfalls kam bei diesem Mann plötzlich alles mögliche zum Vorschein. Ich hatte gar nicht geahnt, daß so viel Bosheit und Gemeinheit in ihm stecken. Vielleicht ist es ganz gut, daß alles so gekommen ist.«
Sie lächelte sparsam.
»Sagen Sie, Anna Igorjewna, haben Sie den Drohbrief aufbewahrt?«
»Wo denken Sie hin. Mein Mann hat ihn sofort zerrissen. Wissen Sie, am Tag unserer Hochzeit hat er noch irgendwie Haltung bewahrt und war sogar liebevoll. Aber ab dem nächsten Tag war ich eine Schlampe für ihn, ein Flittchen, eine Nutte. Ich hatte gar nicht gewußt, wie viele einschlägige Schimpfwörter er kennt.« Sie lachte kurz auf. »Ich habe das genau zehn Tage ausgehalten, dann haben wir uns getrennt. Inzwischen ist die Ehe wieder geschieden.«
»Das tut mir leid für Sie«, sagte Nastja leise. »Vielleicht könnte ja alles wieder ins Lot kommen, jetzt, da sich herausgestellt hat, daß so einen Brief nicht nur Sie bekommen haben.«
»Nein, ich will nicht mehr.« Anna Igorjewna schüttelte den Kopf. »Ich habe genug. Ich bin schon sechsunddreißig, wegen eines Stempels im Paß lasse ich mich nicht noch einmal erniedrigen. Ich wollte schrecklich gern heiraten, das gebe ich zu, aber ich hatte lange Zeit kein Glück. Und jetzt will ich nicht mehr.«
»Warum haben Sie den Drohbrief nicht zur Miliz gebracht?«
»Weil ich wußte, wer ihn geschrieben hatte. Das heißt, bis gestern habe ich geglaubt, es zu wissen.«
Sie fuhren noch zu den zwei anderen Adressen und hörten sich noch zwei Geschichten von Frauen an, die ebenso unterschiedlich wie gleichartig klangen. Keine von ihnen hatte sich an die Miliz gewandt, weil jede »gewußt« hatte, von wem der Drohbrief stammte.
Sie waren kreuz und quer durch die Stadt gefahren, um die Frauen zu finden, die sich gerade an ihrem Arbeitsplatz befanden, zu Hause oder bei Freunden.
»Anastasija, wir sind gerade in der Nähe meines Hauses«, sagte Anton, »vielleicht sollten wir bei mir eine Tasse Tee trinken.«
»Einverstanden«, stimmte Nastja zu. Sie hatten beide den ganzen Tag noch nichts gegessen, obwohl es bereits sieben Uhr abends war.
Anton Schewzow wohnte in einer kleinen, nicht sehr geräumigen, aber bequemen Zweizimmerwohnung. Man sah sofort, daß er ein ordentlicher Junggeselle war, alles war sauber, gepflegt, ganz offensichtlich erst vor kurzem renoviert. Die hellgrauen, fast weißen Tapeten an den Wänden im Wohnzimmer hatten ein kaum merkliches silbernes Muster, was eine heitere Atmosphäre schuf und den Raum mit einem besonderen Licht zu füllen schien.
»Möchten Sie Tee oder Kaffee?«
»Haben Sie denn auch Kaffee? Sie trinken doch keinen«, sagte Nastja erstaunt.
»Selbst
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