Anastasija 04 - Tod und ein bisschen Liebe
fragte sie, ohne sich zu ihm umzuwenden.
»Halb eins. Wollen wir bis vier Uhr warten?« Großzügig verlängerte er die Wartezeit auf dreieinhalb Stunden, obwohl er wußte, daß es von hier bis zu Turbins Wohnung nicht mehr als eine halbe Stunde war.
»Bis fünf«, erwiderte Elja. »Nein, bis sechs.«
»Gut, dann eben bis sechs«, stimmte Marat zu. Es war ihm gleichgültig, wie lange sie warten würden. Turbin würde sowieso nicht zurückkommen.
* * *
Untersuchungsführer Olschanskij unterrichtete nicht nur den Richter, sondern auch die Miliz von Artjuchins Verschwinden. Sofort wurde die Fahndung nach ihm eingeleitet, man überprüfte alle Orte, an denen er sich gewöhnlich aufhielt, und seine sämtlichen Bekannten. An erster Stelle wurde natürlich Larissa Samykina befragt. Sie war blaß, hatte verweinte Augen und schwor, daß sie keine Ahnung hatte, wo Sergej war. Die Aussage des Mädchens wirkte glaubwürdig.
Am selben Abend, es war Dienstag, rief Olschanskij bei ihr an und lud sie zum Verhör vor. Sie sollte am nächsten Tag um zehn Uhr erscheinen. Am Mittwoch wartete Konstantin Michailowitsch bis zum Mittag auf sie, dann mußte er sich um andere Dinge kümmern. Anschließend rief er bis zum Abend immer wieder bei ihr an, aber sie meldete sich nicht. Daraufhin setzte er sich mit der Miliz in Verbindung und bat, Larissa am nächsten Tag zwangsweise vorzuführen.
Aber am nächsten Tag stellte sich heraus, daß Larissa Samykina spurlos verschwunden war.
* * *
Nadeshda Rostislawowna, Nastjas Mutter, mochte sich mit der Aversion ihrer Tochter gegen große, laute Menschenansammlungen nicht abfinden.
»Wir gehen alle vier«, verkündete sie, ohne auf Nastjas schüchterne Einwände zu achten. »Ich und dein Vater und du mit Ljoscha. Es muß doch möglich sein, daß wir einmal in drei Jahren alle zusammen ausgehen.«
»Aber Mama, du weißt doch, daß ich diese Veranstaltungen nicht mag«, stöhnte Nastja. »Warum willst du mich zwingen? Ich bin viel lieber zu Hause. Ich mag mich nicht anziehen und schminken, ich habe keine Kraft dazu.«
»Töchterchen, du redest Unsinn. Ich bin für ganze zwei Wochen hier, danach werden wir uns wieder ein Jahr lang nicht sehen. Kannst du deiner Mutter nicht ein einziges Mal im Jahr einen Gefallen tun?«
»Ljoscha und ich könnten doch zu euch kommen«, schlug Nastja vor. »Bei euch zu Hause können wir uns wenigstens in Ruhe unterhalten. Bitte, Mama . . .«
»Hör auf, Nastja. Zu uns kommt ihr außerdem noch, das versteht sich von selbst. Ich bitte dich, mach dich fertig, um sieben Uhr erwarten Papa und ich euch vor dem Filmzentrum. Heute abend werden viele meiner Bekannten da sein, unter anderem Botschaftsmitarbeiter, verstehst du. Ich habe so viel von meiner ungewöhnlichen Tochter und ihrem ungewöhnlichen Professor Tschistjakow erzählt, daß mir keiner mehr glaubt. Ich möchte, daß meine Bekannten endlich einmal meine Familie zu Gesicht bekommen. Ich bin stolz auf euch, verstehst du das denn nicht?«
Es war, als hätte Nastja ein Stromschlag getroffen. Ihr wurde plötzlich klar, daß ihre Mutter mit ihrem schwedischen Geliebten gebrochen hatte. Und jetzt wollte sie allen, die von diesem Verhältnis gewußt hatten, zeigen, daß in ihrem Leben alles in Ordnung war, daß sie eine wundervolle Familie hatte, die sie nie zu verlassen vorgehabt hatte. Mein Gott, wie typisch weiblich, dachte Nastja mit einem inneren Lachen.
»Gut, Mama«, stimmte sie zu. »Wir werden kommen. Um sieben vor dem Filmzentrum.«
Im Mittelpunkt der Veranstaltung im Filmzentrum stand die Ausstellung der Fotografin Alla Mospanowa. Die hagere, braungebrannte Künstlerin hatte ihr Haar mit einem Tuch fest an den Kopf gebunden und trug zahlreiche Armreife an ihren schönen nackten Armen. Sie war umringt von Freunden und Bewunderern. Sie war außerordentlich begabt und hatte bereits Ausstellungen in aller Welt gehabt.
»Kennst du sie etwa?« fragte Nastja, als sie sah, daß ihre Mutter zielstrebig auf die Mospanowa zusteuerte.
»Natürlich«, erwiderte Nadeshda Rostislawowna beiläufig. »Sie hatte schon zwei Ausstellungen in Schweden, und wir hatten engen Kontakt miteinander. Wir haben dort wenig Russen, weißt du, deshalb drängt sich alles um die Botschaft.«
Sie hatte tatsächlich »wir« gesagt, »Wir haben dort wenig Russen«, und aus irgendeinem Grund hatte das Nastja einen schmerzhaften Stich versetzt.
Ihre Mutter und die Künstlerin begrüßten sich mit überschwenglichen Küssen.
»Darf
Weitere Kostenlose Bücher