Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
Wartezimmer und bat ihn, sich kurz zu gedulden. Gleich darauf erschienen drei bullige Männer, verdrehten Wolodja die Arme auf dem Rücken, rissen ihm die Hose herunter und jagten ihm eine Spritze mit einer Pferdedosis Aminasin ins Gesäß. So begann man zu jener Zeit mit der Behandlung von Kranken, die sich in psychotischen Wahnzuständen befanden und eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellten.
Nach einigen Tagen fand der behandelnde Arzt, dass man Wolodja genug von dem Mittel verabreicht hatte und er nun ein Gespräch mit ihm führen konnte.
»Warum bin ich hier?«, fragte Wolodja entsetzt. »Es handelt sich um einen Irrtum, irgendeinen schrecklichen Irrtum. Sie müssen mich verwechselt haben.«
»Aber nicht doch, nicht doch«, sagte der Arzt begütigend. »Sie sind doch. . .«
Er warf einen Blick ins Krankenblatt und nannte Wolodjas Namen und Vatersnamen, sein Geburtsjahr, seine Adresse und Telefonnummer, seinen Dienstgrad und seine Stellung beim KGB.
»Ja, das bin ich«, sagte Wolodja verwirrt. »Aber warum, wofür? Was ist passiert?«
»Freundchen, Sie saßen im Büro ihres Chefs, blickten auf den Safe und behaupteten, dass Sie gerade versuchen, ihn mit ihren Augen zu öffnen. Geben Sie zu, dass das nicht normal ist. Natürlich sind Sie krank, und wir müssen Sie behandeln.«
Von da an fragte Wolodja nicht mehr, warum er hier war. Der Vorsitzende hatte kurzen Prozess mit ihm gemacht. Elegant und effizient hatte er sich für seinen Ungehorsam und seinen kindlichen Moralisierungsversuch revanchiert. Und für Wolodjas letzten Blick, unter dem ihm plötzlich so seltsam heiß geworden war und seine Arme und Beine sich mit bleierner Schwere gefüllt hatten.
Natürlich, mein Junge, hätte er in diesem Moment am liebsten gesagt, ich werde dich für China einteilen. Für Ungarn und die Tschechoslowakei finden wir andere. Du hast Recht, diese Länder sind nichts für dich. Einen Moment lang war der Vorsitzende ganz sicher gewesen, dass er genau das sagen musste, weil dann alles ganz leicht, einfach und gut werden würde. Es hatte nicht länger als drei Sekunden gedauert, aber die hatte der Vorsitzende Wolodja nie verziehen.
Wolodja blieb im Hospital. Nach dem Willen des Vorsitzenden sollte er es erst in einigen Jahren als geistiges und körperliches Wrack verlassen. Dieser Wille hätte sich zweifellos auch erfüllt, wäre nicht Wladimir Wassiljewitsch Bulatnikow gewesen, der Wolodja aus dem Hospital herausholte, bevor es gelang, ihn endgültig auszulöschen. Natürlich raubte Bulatnikow Wolodja nicht bei Nacht und Nebel aus dem Hospital, sondern machte das ganz legal. Er erreichte einfach, dass man ihn als geheilt entließ. Wolodja hatte die Schwelle zum Hospital als gesunder, kraftvoller, erfolgreicher KGB-Major überschritten, jetzt, als er es verließ, war er niemand mehr. Seine Beine trugen ihn kaum noch, er sah schlecht, die Mittel, die man ihm gespritzt hatte, hatten zu einer Netzhautablösung geführt. Er war stark geschwächt und hilflos. Aber sein Kopf war noch in Ordnung, er konnte noch normal denken.
Bulatnikow begann, Wolodja zu hegen und zu pflegen. Er versorgte ihn mit Vitaminen, mit Naturprodukten vom Markt, er ging mit ihm im Park spazieren und hielt ihn dabei am Ellenbogen fest, er brachte ihn zu einem Augenarzt, der seine Netzhaut behandelte.
Er weihte Wolodja von Anfang an in seine Pläne ein. Der gescheiterte, kranke KGB-Major musste aus der Welt verschwinden, an seine Stelle musste ein Mann mit einem neuen Namen und einer neuen Biographie treten. Dieser Mann war dazu ausersehen, eine Gruppe von Menschen mit großer natürlicher Begabung zu leiten, er sollte diese Menschen führen und sie lehren, ihre natürliche Gabe zu entfalten und praktisch zu nutzen. Wolodja war dafür der ideale Mann. Er besaß eine Spezialausbildung, beherrschte die entsprechenden Techniken und hatte einige Erfahrung in operativer Arbeit. Außerdem war er allein stehend, sein Vater war vor einigen Jahren, seine Mutter ganz vor kurzem gestorben, er hatte keine Geschwister, keine Frau und keine Kinder. Sein Verschwinden würde wahrscheinlich niemandem großen Schmerz zufügen.
So wurde ein Mann namens Pawel Sauljak ins Leben gerufen. Und danach die Gruppe. Alle vier Mitglieder fand Bulatnikow selbst und rettete sie aus ihrem Unglück. Aber keiner der Gruppe kannte auch nur seinen Namen. Pawel unterrichtete jeden von ihnen einzeln und hielt sich dabei streng an die Methoden, die er sich in dem geheimen Labor
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