Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
fünf Uhr, gelang es ihr, zum General vorzudringen. Da war sie schon so gereizt, dass selbst die Serienmorde sie nicht mehr interessierten, sie ärgerte sich nur noch darüber, dass sie so viel Zeit sinnlos im Vorzimmer des Generals verbracht hatte.
»Nehmen Sie Platz«, sagte der General nicht sehr freundlich und deutete auf einen Stuhl. »Machen Sie es kurz, lesen Sie diagonal. Wir werden ein Arbeitsteam zur Aufklärung dieser Mordfälle zusammenstellen. Wenn Sie wollen, können Sie mitarbeiten.«
Er warf nachlässig einen Ordner auf den Tisch und vertiefte sich in irgendwelche eigenen Unterlagen, während Nastja in dem Ordner blätterte. Sie konnte nichts Neues darin entdecken. Unaufgeklärte Mordfälle der Jahre 1992 und 1993. Das alles kannte sie bereits. Darunter Morde an Kindern, die in Uralsk begangen wurden. Wozu hatte man ihr das gegeben? Und warum hatte man erst jetzt beschlossen, ein Arbeitsteam zu bilden? Die Fälle befanden sich schon seit langer Zeit zur Überprüfung im Ministerium, warum hatte man bisher geschlafen?
Nastja las und stutzte. Hier also lag der Hund begraben. In einer der Regionen, wo 1992 die Leichen von sechs jungen Mädchen gefunden worden waren, wurde jetzt der Leichnam eines Mannes entdeckt. Das klang interessant. Die Morde an den Mädchen wurden seinerzeit alle einem Täter zugeschrieben, da dieser allen seinen Opfern einen Ohrring aus dem Ohr gezogen und in den Mund gesteckt hatte. Und bei dem jetzt entdeckten Toten hatte man ebenfalls einen Ohrring im Mund gefunden. Zuerst war man davon ausgegangen, dass es sich wieder um denselben Täter handelte, um einen Wahnsinnigen, der sein tödliches Handwerk wieder aufgenommen und diesmal einen Mann ermordet hatte. Man hatte der Leiche Fingerabdrücke abgenommen, Haar- und Gewebeproben, und mit Erstaunen festgestellt, dass die Spuren des Mannes in der einen oder anderen Form bei jedem der ermordeten Mädchen zu finden waren. Was besagte, dass es sich bei dem Ermordeten um den Mörder der Mädchen handelte. Aber wer hatte ihn umgebracht? Wer es auch gewesen sein mochte, er hatte auf jeden Fall gewusst, warum und wofür er diesen Mann ermordete. Der Ohrring im Mund des Toten war kein Zufall, sondern sprach Bände.
Nastja blätterte weiter. Eine andere Meldung aus Uralsk besagte, dass man die Leiche eines Mannes gefunden hatte, in dessen Brust das russisch-orthodoxe Kreuzzeichen hineingeschnitten war. Genau dasselbe, das man auf den Körpern der elf Jungen entdeckt hatte, die drei Jahre zuvor ermordet worden waren. Die Fingerabdrücke dieses Mannes wurden seinerzeit auf den Schultaschen der ermordeten Kinder gefunden. Nicht schlecht! Auch hier hatte der Rächer des Volkes zugeschlagen. Er besaß ein beneidenswertes Wissen. Die Miliz suchte den Mörder bereits seit Jahren, und er hatte ihn gefunden. Und zwar nicht nur einen, sondern gleich zwei auf einmal.
Nastja schloss den Ordner und wartete schweigend, bis der General sich dazu herablassen würde, ihr seine Aufmerksamkeit zu schenken.
»Fertig?«, fragte er schließlich, ohne die Augen von seinen Papieren zu heben.
»Ja.«
»Und was sagen Sie dazu?«
»Interessant«, erwiderte Nastja zurückhaltend.
»Haben Sie irgendwelche Ideen?«
»Ja«, sagte sie mit einem leisen Schmunzeln. »Aber sie gehören nicht in dieses Büro.«
»Tatsächlich?« Alexander Semjonowitsch hob endlich den Kopf, nahm seine Brille ab und würdigte Nastja seines Blickes. »Und wohin gehören Ihre Ideen, wenn ich fragen darf? In Gordejews Büro?«
»Nein, dort würden sie ebenfalls wenig Gefallen finden. Für diese Ideen würde Gordejew mich fristlos entlassen.«
»Hören Sie auf zu kokettieren und sprechen Sie endlich«, befahl der Leiter des Hauptkomitees.
»Die Stunde des Henkers«, sagte Nastja ruhig. »Wir sollten ihn nicht stören. Ganz offensichtlich weiß er besser als wir, wer die Mörder sind. Wir müssen nur herausfinden, wer dieser Henker ist, wer mit dem Schwert der Rache umhergeht und die Schuldigen zum Tode verurteilt.«
»Alles klar«, sagte der General. »Und Ihnen wird nicht übel von dieser Idee?«
»Doch, durchaus. Aber nur, wenn der selbst ernannte Henker auch weiterhin die Opfer rächen wird. Wenn das an seiner Stelle der Staat tut, wird mit meinem Rechtsempfinden alles in Ordnung sein. Geben Sie dem Henker Gelegenheit, uns den Weg zu seinen Opfern zu zeigen, stören Sie ihn nicht dabei. Die Strafe werden wir dann selbst verhängen. Einige Kompromisse werden wir dabei natürlich
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