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Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers

Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers

Titel: Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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angeeignet hatte und die, wie er feststellte, wirklich brauchbar und effektiv waren. Selbst Rita, die überhaupt nichts konnte, deren höchste Kunst darin bestanden hatte, ihren Nachbarn dazu zu bringen, dass er seinen eigenen Wodka in den Ausguss kippte, lernte in kurzer Zeit erstaunliche Dinge. Das einzige Hindernis bestand in ihrer Gutmütigkeit und Naivität.
    Die junge, naive und verliebte Rita war die einzige in der Gruppe, die Pawel von Anfang an duzte. Die drei Männer, die sich ihres schmutzigen Geschäfts und ihrer Abhängigkeit von Pawel sehr genau bewusst waren, sprachen ihn mit Namen und Vatersnamen und per Sie an. Rita hingegen wusste nicht, was sie eigentlich tat, sie war Pawel unendlich dankbar und liebte ihn so, dass sie mit Begeisterung auch umsonst für ihn gearbeitet hätte.
    Damals hatte Pawel leider vieles nicht begriffen. Erst jetzt waren ihm die Augen aufgegangen.
    Vor einer Woche hatte er Rita darauf vorbereitet, dass er für eine Weile verschwinden würde. Er wollte in dieser Zeit das erledigen, was er zu erledigen hatte, und dann zu Rita zurückkehren. Aber völlig unerwartet für sich selbst begann er sie bereits nach einer Woche zu vermissen. Zum ersten Mal in seinem Leben war er in einer Situation, in der er völlig auf sich allein gestellt war. Niemand gab ihm Anweisungen und niemand entschied für ihn. Nachdem er aus dem KGB hinausgeflogen war, war Bulatnikow sein Chef geworden. Wieder war er Befehlsempfänger gewesen, der nur dazu da war, die ihm gestellte Aufgabe so gut wie möglich zu erfüllen. Dann, nach Bulatnikows Tod, kam das Straflager und auch hier das Gewohnte. Disziplin, Ordnung, Gesetze, Kontrolle, Hierarchie. Und danach war es Minajew, der ihm Befehle erteilte. Pawel hatte wieder nichts anderes zu tun, als seinen Auftrag zu erfüllen und das Honorar dafür in Empfang zu nehmen.
    Und jetzt? Pawel hatte nie gelernt, selbst zu entscheiden, selbst über sein Leben zu bestimmen. Er konnte nur über das Leben anderer entscheiden, aber nicht über sein eigenes.
    Und plötzlich zog es ihn zu Rita, die noch hilfloser und verwirrter war als er. Durch sie hoffte er Sicherheit zu gewinnen. Wenn er Verantwortung für sie übernahm, dann würde diese Verantwortung zu seinem neuen Gebieter werden, zu jener Autorität, die die Entscheidungen für ihn treffen würde. Rita brauchte ihn, und vielleicht würde ihm das zeigen, wie er weiterleben sollte.
    Er hatte gestern und heute bei ihr angerufen, mindestens zwanzigmal, er hatte morgens, abends und nachts angerufen, aber Rita nahm nicht ab. Pawel hatte ihre Dienstnummer, aber er wollte nicht in der Sparkasse anrufen. Das konnte gefährlich werden und ging gegen seine Prinzipien. Rita war zwar sehr zuverlässig und diszipliniert, aber in ihrer Überraschung und Freude über seinen Anruf würde sie vielleicht ungewollt seinen Namen ausrufen, und das durfte Pawel auf keinen Fall riskieren. Warum meldete Rita sich nicht? Wo war sie nur?
    Er erhob sich mühsam von dem Sofa, auf dem er lag, und ging hinaus auf die Straße. Die nächste Telefonzelle war nicht weit entfernt. Er steckte eine Münze in den Schlitz und wählte erneut Ritas Nummer. Diesmal wurde abgenommen, aber es meldete sich eine Männerstimme.
    »Hallo«, sagte der Mann. »Wer ist da? Hallo?«
    »Guten Tag«, erwiderte Pawel gefasst, obwohl sich ihm innerlich alles zusammenschnürte. »Kann ich bitte Swetlana Jewgenjewna sprechen?«
    »Swetlana Jewgenjewna?«, wiederholte der Mann unsicher. »Wissen Sie, sie ist gerade hinausgegangen, sie kommt in fünf Minuten wieder. Könnten Sie noch einmal anrufen? Oder soll ich ihr etwas ausrichten?«
    »Vielen Dank«, entgegnete Pawel ruhig. »Sagen Sie ihr bitte, dass Martynenko angerufen hat. Wenn Sie erlauben, melde ich mich später noch einmal.«
    Er hängte auf und lehnte sich an die Wand der Telefonzelle. So war das also. Rita war nicht zu Hause, und in ihrer Wohnung befand sich ein fremder Mann. Einer, der nicht einmal wusste, wer in dieser Wohnung wohnte. Hätte er Rita gekannt, hätte er dem Anrufer gesagt, dass er sich verwählt hatte, dass es hier keine Swetlana Jewgenjewna gab. Dies aber war ein völlig fremder Mensch gewesen, der keine Ahnung hatte, in wessen Wohnung er sich überhaupt aufhielt.
    Rita musste etwas zugestoßen sein.
    Und in diesem Moment erinnerte sich Pawel plötzlich an eine andere Frau, eine, die er bereits aus seinem Gedächtnis getilgt hatte. Er erinnerte sich an die, die ihn gerettet hatte. Er erinnerte sich

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