Anastasija 05 - Die Stunde des Henkers
grauhaariger, sehr gut gekleideter Mann. Das hatte große Ähnlichkeit mit dem Mann, den Mchitarows Frau beschrieben hatte.
Sie stürzte zu Gordejew, und gleich nach der morgendlichen Einsatzbesprechung fuhr sie zusammen mit Korotkow zur Dienststelle der Miliz in Krylatskoje, wo sich die Unterlagen über den Fund der Leiche befanden.
Die Leiche war in einem Waldstück entdeckt worden. Der Revolver, aus dem der Schuss abgegeben worden war, wurde ganz in der Nähe gefunden. Ein typisches Zeichen der Zeit, dachte Nastja sarkastisch. Noch vor zehn Jahren, als Waffen nur einem sehr begrenzten Personenkreis zur Verfügung standen, hätte so etwas nicht passieren können. Man ermordete sogar Milizionäre, um an deren Revolver heranzukommen. Jetzt konnte man sich problemlos Revolver aller Marken besorgen, da eine Unmenge gestohlener und geschmuggelter Waffen in Umlauf war. Die Täter warfen die Waffen oft einfach weg.
Nastja und Korotkow kehrten mit einem Foto des Ermordeten in die Petrowka zurück. Nastja nahm den Telefonhörer und rief Stassow an.
»Wlad, wie können wir ein Foto zur Identifizierung nach St. Petersburg weitergeben, ohne deine Frau zu verraten?«, fragte sie.
»Kommt darauf an, wessen Foto es ist.«
»Ein grauhaariger älterer Mann mit dunklen Augen.«
»Großartig. In ganz Russland gibt es wahrscheinlich nur einen einzigen Mann, der so aussieht.«
»Nein, Wlad, solche gibt es zu Tausenden. Aber als Leiche bisher nur einen.«
»Ach? Und jetzt hoffst du, dass demnächst die Leiche eines dunkelhaarigen Kaukasiers gefunden wird?«
»Ja, ich kann warten, ich bin geduldig. Wie sieht es nun aus mit dem Foto, was meinst du?«
»Ich muss Tatjana anrufen.«
»Gut, ruf sie an. Ich warte.«
* * *
Spätabends fuhr Nastja zum Leningrader Bahnhof. Stassow hatte sie zurückgerufen und gesagt, Tatjana könne alles so einrichten, dass kein unnötiger Lärm entstehen würde, da sie die operativen Mitarbeiter gut kannte, die sich mit dem Fall Mchitarow befassten. In der Version für die Petersburger Kollegen handelte es sich bei dem Ermordeten um einen Mann, dessen Identität nicht bekannt war, der aber nach operativen Erkenntnissen vor kurzem in St. Petersburg gewesen war; man hatte ihn dort in der Nähe des Hauses gesehen, in dem Mchitarow wohnte. Nastja sollte das Foto einem Leutnant Wesselkow mitgeben, der an diesem Abend mit dem Zug von Moskau nach St. Petersburg fuhr. Wesselkow würde natürlich keine Uniform tragen, aber Nastja hatte die Nummer des Waggons und des Abteils, das für Wesselkow reserviert war.
Sie ging langsam über den Bahnsteig und hielt Ausschau nach dem Waggon mit der Nummer sieben. Der Vorteil des »Roten Pfeils« bestand darin, dass der Zug immer schon lange vor der Abfahrt auf dem Bahnsteig stand. Man konnte in aller Ruhe seinen Platz suchen, sein Gepäck verstauen, sich auskleiden, hinlegen und sogar noch vor Abfahrt des Zuges einschlafen. Nastja hatte sich beizeiten auf den Weg gemacht und war früh dran.
Hier war der Waggon, den sie suchte. Er war hell erleuchtet, Nastja konnte durch das Fenster erkennen, dass das von ihr gesuchte Schlafwagenabteil bereits belegt war.
Sie zeigte der Zugbegleiterin ihren Dienstausweis, betrat den Waggon und klopfte an die Tür des Abteils mit der Nummer vier.
»Einen Moment bitte«, hörte sie eine männliche Stimme sagen.
Kurz darauf erschien Wesselkow in der Tür.
»Wollen Sie zu mir?«
»Wenn Sie Gennadij Petrowitsch Wesselkow sind . . .«
»Was kann ich für Sie tun?«
Es kamen ständig neue Leute in den Waggon, Nastja und Wesselkow standen in dem schmalen Gang und behinderten die Vorübergehenden. Es war besser, auf den Bahnsteig hinauszugehen.
»Tatjana Grigorjewna Obraszowa hat mich gebeten, Ihnen dieses Kuvert zu übergeben. Sie wird es morgen bei Ihnen abholen«, sagte Nastja.
»Was ist in dem Kuvert?«
»Spielt das eine Rolle?«, fragte Nastja. »Man sieht doch, dass es keine Bombe ist.«
»Ich muss es wissen. Öffnen Sie das Kuvert bitte.«
Alles richtig, dachte Nastja. Du hast deine Lektion gut gelernt, Leutnant Wesselkow. Nimm niemals ein Kuvert von einem Fremden an, wenn du nicht weißt, was drin ist. Eines der heiligen Gebote für Ermittlungsbeamte.
Sie öffnete das Kuvert und zog das Foto des unbekannten Mannes heraus.
»Hier. Das ist alles.«
»Weiß Tatjana Grigorjewna Bescheid?«
»Ja.«
»Soll ich ihr etwas ausrichten?«
»Nein. Richten Sie ihr nur aus, dass ich ihr danke.«
Er ging ein paar Schritte in
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