Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
Kindes war alles in ihr ganz darauf gerichtet, sich um das winzige Wesen zu kümmern, es zu hegen, zu umsorgen und grenzenlos zu lieben. Der Mechanismus, einmal in Gang gesetzt, befand sich plötzlich im Leerlauf. Die Seele sondert, ähnlich wie die Drüsen, einen bestimmten Stoff ab, bestehend aus Zärtlichkeit, Liebe und Fürsorge, der darauf gerichtet ist, das Kind zu umhüllen. Doch das Kind ist nicht mehr da. Nun zerfrisst dieser Stoff die Seele, zerstört alles, hinterlässt schlimme Wunden. Azucena greift zum klassischen Objekttausch. Wenn das eigene Kind nicht mehr da ist, nehmen wir eben ein fremdes. Was macht das für einen Unterschied? Hauptsache, nicht den Verstand verlieren.
Sie nimmt den Säugling mit ins Zigeunerlager, nennt ihn Manrico, und er wächst ahnungslos unter Zigeunern auf. Was geschieht mit Azucena in diesen Jahren? Hängt sie an Manrico, ist er für sie wie ein eigener Sohn? Ja und nein. Ja, weil sie an seinem Schicksal Anteil nimmt und ihn in seinem Kampf unterstützt, so weit das überhaupt in ihrer Macht steht. Und nein, weil sie, selbst als sie ihn verliert, als sie sieht, wie er getötet wird, an Rache denkt und an ihre auf dem Scheiterhaufen verbrannte Mutter. Sich nicht vor Kummer die Haare rauft, sondern triumphierend die faltigen Greisinnenfäuste schüttelt. Ich glaube, Leonid Sergejewitsch, während der gesamten Oper tobt in Azucena ein ständiger innerer Kampf zwischen ihrer Zuneigung zu dem Jungen, den sie großgezogen hat, und dem ungerächt gebliebenen Verlust ihrer Mutter.
Können wir annehmen, dass Azucena mit den Jahren weiser wurde und immer seltener an Rache dachte? Wohl kaum. Wäre sie weiser geworden, hätte sie erkannt, dass ihre Mutter zu Recht bestraft wurde, Rache also unangebracht wäre. Da sie das bis ins hohe Alter nicht begriffen hat, ist anzunehmen, dass ihr Rachedurst mit den Jahren nicht abgenommen hat. Ihr Verhältnis zu Manrico dagegen wurde mit den Jahren zwangsläufig milder, denn selbst Feinde gewöhnen sich aneinander und kommen sich näher, wenn sie viele Jahre Zusammenleben. Und sie waren keineswegs Feinde. Im Laufe der Zeit wurde der schreckliche Zwiespalt zwischen dem Bestreben, die Mutter zu rächen, und der Liebe zu ihrem Pflegesohn immer schlimmer. Seinen Höhepunkt erreicht dieser innere Konflikt vermutlich genau mit den Ereignissen, von denen die Oper erzählt. Manrico kämpft gegen den ältesten Sohn des Grafen Luna, also gegen seinen leiblichen Bruder, wovon er natürlich nichts ahnt. Azucena dagegen weiß genau, dass Manrico die Hand gegen den eigenen Bruder erhebt, was übrigens auch gegen die göttlichen Gebote verstößt. Die alte Zigeunerin beobachtet diesen Frevel vollkommen gleichmütig. Sie begrüßt den Krieg, den Manrico gegen seinen eigenen Bruder führt, rächt sich damit indirekt an der Familie Luna und freut sich über deren Niederlagen und Verluste. Mehr noch, sie bestärkt Manrico in seiner Liebe zu Leonora, die sein älterer Bruder heiraten will. Was wünscht Azucena denn Leonora, die übrigens Herzogin ist, ein Mädchen aus einer zwar verarmten, aber adligen Familie? Ein Leben im Zigeunerlager? Leonora passt nicht zu ihrem Pflegesohn, das ist ganz offensichtlich, mehr noch, sie wäre eine Fremde und würde den Unmut der anderen Zigeuner wecken. Aber das ist Azucena egal. Hauptsache, Luna erleidet einen weiteren Verlust, Hauptsache, sie kann ihn auch auf diese Weise treffen. Nein, die alte Zigeunerin hat den Gedanken an Rache keineswegs aufgegeben.
Und noch eins: Im Verlauf der Handlung hat Azucena Gelegenheit, mit dem Grafen, Manricos Bruder, zu sprechen. Nutzt sie diese etwa, um dem Brudermord Einhalt zu gebieten, ihm die Augen zu öffnen über die Herkunft seines Erzfeindes? Nein. Sie wartet ab, bis Manrico hingerichtet wird, und erst da ruft sie dem Grafen schadenfroh zu: »Er war dein Bruder!« Dies ist der Augenblick ihres höchsten Triumphes.
Und ein Letztes. Als Azucena in Gefangenschaft des Grafen Luna gerät, erkennt Ferrando, einer seiner Feldherren, in ihr die Tochter der alten Zigeunerin, die vor zwanzig Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Er erkennt sie wieder, nach zwanzig Jahren! Sagt Ihnen das nichts, Leonid Sergejewitsch? Ich habe mir extra mehrere Troubadour-Inszenierungen angesehen, sowohl in Opernhäusern als auch als Aufzeichnungen, und in allen ist Azucena eine zottlige Greisin. Doch wie alt ist sie wirklich? Höchstens fünfzig, eher jünger, vielleicht gute vierzig. Das zum einen. Und
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