Anastasija 07 - Mit tödlichen Folgen
erfuhren, dass Alina in russischen Filmen mitspielte, redeten Waldis und Inga nicht mehr mit ihr. Alinas Brüder sind natürlich nicht ganz so hinterwäldlerisch. Alois, der jüngere, ist überhaupt ganz normal, ein richtiger ›neuer Russe‹. Er hat sein eigenes Unternehmen gegründet, ein Mädchen aus Helsinki geheiratet und lebt mal hier, mal dort. Imant, der ältere, steht Waldis geistig näher und hat Alinas Arbeit nie gutgeheißen. Besonders gestört hat ihn, dass wir beide unehelich zusammenlebten. Ich habe einmal mit halbem Ohr gehört, wie er sie eine Schlampe und eine Nutte nannte, die von Kindesbeinen an nichts anderes im Sinn gehabt habe als die Hosenschlitze von Männern. Jedenfalls, zu Waldis, Inga und Imant hatte Alina faktisch kaum Kontakt. Eine einigermaßen herzliche Beziehung hatte sie nur zu Alois, aber der ist nie lange in Moskau. Wissen Sie, Jura Viktorowitsch, Alina war sehr, sehr einsam. Ich wage zu behaupten, dass sie auf der ganzen Welt niemanden hatte außer mir und ihrem Bruder Alois. Und wenn ich ganz ehrlich bin, hatte sie eigentlich nur mich.«
Alina Wasnis
Vier Jahre vor ihrem Tod
»Warum zeigen alle die Gilda als unschuldiges Kind, rein und unverdorben? Das ist alles Unsinn, Leonid Sergejewitsch. Lesen Sie das Rigoletto-Libretto noch einmal, ganz aufmerksam, Wort für Wort, dann werden Sie auch entdecken, was ich entdeckt habe.
Wann spielt die Handlung der Oper? Zur Zeit des Königs Franz I. Erinnern Sie sich aus dem Geschichtsunterricht, was für eine Zeit das war? Haben Sie die Bücher von Dumas gelesen? Haben Sie von Benvenuto Cellini gehört? Der Begriff Jungfräulichkeit kam unter Franz I. gar nicht vor. Die Sitten waren mehr als lose. Und was der Herzog von Mantua getan hat, war nichts Außergewöhnliches. So verhielten sich alle Herzöge Italiens in dieser Zeit, das war normal und allgemein üblich. Und wenn sich alle so verhielten, dann muss sich das auch auf die Psyche der weiblichen Bevölkerung ausgewirkt haben. Und nun zurück zu Gilda.
Wo lernt sie den Herzog kennen? In der Kirche. Und was sagt sie darüber, erinnern Sie sich? ›Wenn ich an Festestagen vor dem Altare kniete, sah ich dort einen Jüngling in frischer Jugendblüte . . .‹ Na, wie finden Sie das, Leonid Sergejewitsch? Denken Sie sich doch nur eine Sekunde in diese Worte hinein, dann wird Ihnen alles klar. Können Sie sich vorstellen, dass so etwas einem keuschen, reinen Mädchen widerfährt, das zum Beten in die Kirche kommt? Bringen Sie mich nicht zum Lachen. Dafür drängt sich ein ganz anderer Gedanke auf: Gilda, ein normales, fröhliches Mädchen, das genau weiß, wo die Kinder herkommen, sitzt zu Hause, weil der Vater ihr verbietet auszugehen. Nur in die Kirche darf sie, sonst nirgendwohin. Natürlich wird das Verbot nicht befolgt, Gilda trifft sich mit ihren Freundinnen, läuft zu diversen Rendezvous und ist durchaus im Bilde über die Sexualprobleme der Zeit. Rigoletto befiehlt der Dienerin Giovanna, auf seine Tochter zu achten. Doch im Verlauf der Oper sehen wir, wie Giovanna (übrigens ebenfalls eine normale Frau, weit entfernt von irgendeinem Idealbild) vom Herzog Geld annimmt und ihm hilft, ein Rendezvous mit Gilda zu arrangieren. Wie können wir uns sicher sein, dass sie das zum ersten Mal tut? Nein, sie hat das schon ein Dutzend Male getan, hat mit jedem Verehrer Gildas Begegnungen im Garten arrangiert. Beweisen Sie mir, dass das nicht stimmt!
Also, Gilda kommt in die Kirche, und jung, fröhlich und hübsch, wie sie ist, macht sie allen schöne Augen. Und fällt natürlich dem Herzog auf, der, als einfacher Mann verkleidet, ebenfalls in die Kirche gekommen ist, um sich ›umzusehen‹ und vielleicht ein junges Hühnchen zu fangen. Ein wortloses Augenspiel, in dem Gilda bereits geübt ist, und die Bekanntschaft ist geschlossen. Das genau bedeuten die Worte: ›Zwar unsre Lippen schwiegen, doch deutlich sprach sein Blick.‹ Damit Blicke ›deutlich sprechen‹ können, muss man sie zu lesen verstehen. Für eine im Kokettieren erfahrene Frau ein Kinderspiel, aber für ein Mädchen, das noch nie . . . noch nichts . . . und völlig ahnungslos ist? Würde sie überhaupt wagen, einen fremden Mann anzusehen, selbst wenn sie urplötzlich die Leidenschaft überkommen sollte? Das bezweifle ich.
Weiter. Der verkleidete Herzog kommt (mit Giovannas Hilfe) zu der Verabredung mit Gilda. Und was tut unser Mädchen? Sie verheimlicht dem Vater, dass sie einen jungen Mann kennen gelernt und sich mit ihm
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