Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
umgebracht hatte, kehrte sie nach Hause zurück.
Doch wenn die beiden Mädchen sich getroffen hatten, mussten sie sich vorher verabredet haben. Wann und wie hatten sie das getan? Im Laufe des Montags per Telefon? Ljuba Sergijenko war zu Hause, Mila hatte gearbeitet. Aber dann musste jemand im Hotel Rusitsch etwas von diesem Telefonat mitbekommen haben. Vielleicht war es nicht klar, mit wem Mila telefonierte, vielleicht hatte niemand das ganze Gespräch mit angehört, aber jemand musste etwas aufgeschnappt haben, wenigstens einen einzigen Satz, einen Wortfetzen . . .
Damit sollte Mischa Dozenko sich beschäftigen, das war sein Job.
* * *
Nastja wollte bereits nach Hause gehen, als der Untersuchungsführer Olschanskij anrief. Er klang unzufrieden und irgendwie verwirrt.
»Hör zu, Kamenskaja, der Mordfall Schirokowa gefällt mir nicht mehr. Ich glaube, wir sind da in eine Büchse mit Spinnen geraten. Oder in ein Schlangennest. Wie es dir besser gefällt.«
»Mir gefallen weder Spinnen noch Schlangen, ich fürchte die einen wie die anderen. Was ist passiert, Konstantin Micha j lo witsch?«
»Die Leute aus Strelnikows Umfeld machen plötzlich ganz neue Aussagen. Letzte Woche haben sie noch das eine gesagt, und diese Woche sagen sie etwas ganz anderes. Bleibst du noch im Büro?«
»Eigentlich wollte ich nach Hause gehen, aber wenn es nötig ist . . .«
»Nein, es ist nicht nötig, im Gegenteil. Geh hinunter auf die Petrowka und dann bis zur Ecke, wo früher das Geschäft ›Alles für die Dame‹ war. Weißt du noch, wo das ist?«
»Ja.«
»Dann ist es ja gut. Ich lese dich dort auf und bringe dich bis zur Metrostation Semjonowskaja. Ich muss bei meiner Schwiegermutter vorbeifahren. Wir unterhalten uns unterwegs.«
Anfang November war es um acht Uhr abends schon völlig dunkel, und Nastja zitterte innerlich, während sie in Richtung Kusnezkij Most ging. Sie war ein schrecklicher Hasenfuß und fürchtete sich panisch vor dunklen Straßen, weil sie wusste, dass sie sich gegen einen möglichen Angreifer weder wehren noch ihm entkommen konnte. Sie hatte kein Training, keine Erfahrung, und die Luft würde ihr nur für drei Meter reichen.
Sie fror, denn der Sommer war endgültig vorbei, und nun würde ihr bis zum Mai nächsten Jahres nicht mehr warm werden. An Nastja fuhren luxuriöse ausländische Wagen vorbei, mit schönen jungen Männern hinter dem Steuer und schönen jungen Frauen auf dem Beifahrersitz. Nastja empfand, wie immer, Mitleid mit ihnen, denn sie waren schön und jung, aber in der Regel dumm. In den letzten zwei, drei Jahren hatte sie oft genug erlebt, wie aus diesen glitzernden Luxusschlitten die von Kugeln durchlöcherten Körper ihrer schönen jungen Besitzer geborgen wurden. Manchmal befanden sich in diesen Autos auch ihre Freundinnen, die ebenfalls tot waren, weil eine Kugel sie getroffen oder der Wagen außer Kontrolle geraten war und sich überschlagen hatte. Diese Menschen waren nicht zu beneiden, sondern zu bemitleiden. Weil alles, was sie besaßen, für »schnelles Geld« gekauft war, und wo das »schnelle Geld« war, da war auch die Kriminalität. Wer jung und reich war, der war schnell zu Geld gekommen, aber dieses Geld zog den Tod an, weil zu viele sich darum rissen. Die Jungen und Reichen in diesem Land gehörten zu einer Risikogruppe. Sie lebten gewöhnlich nicht sehr lange.
Endlich hatte Nastja den Kusnezkij Most erreicht und erblickte sofort Olschanskijs blauen Shiguli. Sie schlüpfte in das warme Innere des Wagens, schlug schnell die Tür zu, um die warme Luft nicht entweichen zu lassen, überkreuzte sofort ihre Arme auf der Brust und versteckte die Hände unter den Achselhöhlen.
»Ist dir etwa kalt?«, fragte der Untersuchungsführer erstaunt. »Die Temperaturen liegen doch noch im Plusbereich. Es ist noch zu früh zum Frieren.«
»Für mich ist es nicht zu früh«, murmelte sie zähneklappernd. »Kümmern Sie sich nicht darum, mir wird gleich warm.«
»Möchtest du vielleicht einen Schluck trinken?«
»Ja, aber nur einen winzig kleinen.«
Olschanskij entnahm dem Handschuhfach ein kleines dunkelgrünes Fläschchen Rémy Martin und reichte es Nastja.
»Ich habe leider kein Glas. Du musst aus der Flasche trinken.«
Nastja konnte Cognac nicht ausstehen, nicht einmal den allerbesten, aber sie wusste, dass es ein sehr wärmendes Getränk mit gefäßerweiternder Wirkung war. Deshalb kniff sie die Augen zusammen und nahm einen ordentlichen Schluck. Es war ziemlich lange her, seit
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