Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
weiß es nicht . . . Wohl kaum.«
»Das ist schlecht. Aber du bist jedenfalls schon zum dritten Mal verheiratet, insofern kannst du dich eigentlich nicht für hässlich halten.«
»Das tue ich auch nicht. Ich weiß, dass ich viele überflüssige Kilos mit mir herumschleppe, aber das hat mich noch kein einziges Mal daran gehindert, den Mann zu erobern, den ich erobern wollte. Die schlanke Taille und die langen Beine – das ist alles Unsinn, glaub mir. Dieses Idealbild haben sich die Männer selbst ausgedacht, sie glauben naiv daran und wundern sich dann, warum sie bei einer dicken, unattraktiven Frau bleiben. Sie lassen die Schlanken und Langbeinigen stehen und kehren immer wieder zu ihr zurück, weil sie nur mit ihr wirklich glücklich sind. Hast du irgendwann mal Stassows erste Frau gesehen?«
»Nur im Fernsehen.«
»Und wie findest du sie?«
»Wie sollte ich sie finden?«, fragte Nastja erstaunt. »Ich bin doch kein Mann. Aber sie ist natürlich schön, sehr schön.«
»Sie ist viel schöner als ich, Nastja. Sie wiegt nur die Hälfte und hat doppelt so lange Beine wie ich, aber Stassow ist trotzdem mit mir verheiratet. Deshalb habe ich keinerlei Komplexe, schließlich kenne ich das Geheimnis.«
»Welches Geheimnis?«
»Das Geheimnis der Liebe. Ich weiß, was einen Mann an einer Frau festhalten lässt. Und ich bin mir sicher, dass du das auch weißt. Trotz all meiner überflüssigen Kilos und meines mehr als ernsthaften Berufs bekomme ich jeden Mann, den ich bekommen will.«
Tatjana hob ihre Augen und sah Nastja fragend an.
»Willst du mir Strelnikow überlassen?«
»Ja. Ich würde gern herausfinden, ob er von dem lasterhaften Lebenswandel seiner Angetrauten gewusst hat. Bei der Vernehmung durch den Untersuchungsführer reagierte er erstaunt und tat so, als würde er zum ersten Mal davon hören. Aber wir beide, Tanja, wissen, dass das wenig zu bedeuten hat. Ich glaube Strelnikow nicht.«
»Warum? Hast du einen konkreten Grund dafür, oder ist es nur ein allgemeines Misstrauen?«
»Da ist nichts Konkretes. Er ist ein verdammt gut aussehender Mann, und das ist Grund genug, ihm nicht zu glauben.«
»Aber Nastja«, wunderte sich Tatjana, »bist das wirklich du? Was ist mit deiner berühmten, legendären Objektivität? Seit wann beurteilst du Menschen nach ihrem Äußeren?«
»Seit das Äußere den Charakter der Menschen zu prägen begonnen hat. Wir sind alle dumm und primitiv, sogar die Gescheitesten und Ungewöhnlichsten von uns. Wir lieben alle das, was das Auge erfreut. Schöne Kinder gewöhnen sich von klein auf daran, dass man ihnen nie etwas abschlägt. Sie glauben, dass sie alles erreichen können, was sie wollen. Sie wollen ein neues Spielzeug und bekommen es. Sie wollen im Mittelpunkt stehen, von den Erwachsenen gelobt und bewundert werden, und ihr Wunsch wird ihnen prompt erfüllt. Sie sind zu klein, um zu begreifen, dass das, was sie erreichen, nicht ihr eigener Verdienst ist. Sie werden selbstgewisse, leichtlebige, energische, rücksichtslose Menschen, die immer ein Lächeln auf den Lippen haben und sich vor nichts fürchten. Und wovor sollten sie sich auch fürchten, da ihnen immer alles gelingt? Und wenn aus einem schönen Kind ein schöner Erwachsener wird, dann ist sowieso alles zu spät. Diese Menschen stoßen nirgends an Hindernisse, sie bekommen und erreichen alles, was sie wollen, alle lieben sie. Und nun stell dir einmal vor, was für einen Charakter so ein Mensch hat. Siehst du es vor dir? Kann er ehrlich, wahrhaftig, aufrichtig und gradlinig sein? Nie im Leben. Diese Leute gehen über Leichen, sie setzen sich über jedes fremde Unglück hinweg, denn sie kennen nur sich selbst. Alles, was sich ihnen in den Weg stellt, wird auf dem Altar ihrer eigenen Ziele, Wünsche und Prioritäten geopfert. Dass andere Menschen auch Wünsche, Ziele und Prioritäten haben, hat für sie nicht die geringste Bedeutung. Wladimir Alexejewitsch Strelnikow ist ein ungewöhnlich attraktiver Mann. Und deshalb glaube ich ihm kein einziges Wort. Jedenfalls glaube ich nichts von dem, was er Olschanskij, dem Untersuchungsführer, gesagt hat. Und ich wüsste gern, was er dir sagen würde.«
»Und warum nicht dir selbst? Glaubst du, dass ich mich so grundsätzlich von dir und Olschanskij unterscheide?«
»Ja. Du bringst die Menschen dazu, eine schöne Frau, eine anziehende Frau in dir zu sehen. Und auf solche wie Strelnikow wirkt das immer entwaffnend. Solche wie er glauben, dass die Welt nur aus schönen
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