Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
deprimiert war, dass sie das Interesse an allem verloren hatte und sich keine Arbeit suchen wollte. Hat es Sie nicht erstaunt, dass ihre beste Freundin in dieser Zeit kein einziges Mal aufgetaucht ist?«
»Ich weiß nicht . . . Meine Frau und ich haben darüber nicht nachgedacht . . . Es war alles viel einfacher . . . Strelnikow hat mir nicht gefallen, er ist viel älter als Ljuba, ein sehr geschäftstüchtiger Mensch, dem es vor allem um Geld geht . . . Meine Tochter hat nicht zu ihm gepasst. Und ich war froh, dass sie nach ihrer Rückkehr aus der Türkei nicht mehr zu ihm zurückgegangen ist. Ich habe gehofft, dass die Beziehung zu Ende ist, und ich habe mich gefreut, dass Ljuba wieder bei uns war. Das ist alles.«
»War Mila vielleicht gar nicht die beste Freundin Ihrer Tochter?«
»Vielleicht.«
»Aber Sie haben gesagt, dass Ljuba schrecklich unter Milas Tod gelitten hat, dass sie nicht mehr essen und nicht mehr schlafen konnte, dass sie ständig weinte und völlig verstört war. Wie passt das zusammen?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht!« Sergijenko hob seine Stimme.
Nastja wusste genau, was in den nächsten Minuten passieren würde. Solche Abläufe hatte sie schon zahllose Male erlebt. Sobald das Gespräch einen kritischen Punkt erreichte und der Befragte sich plötzlich bedroht fühlte, stieg er aus dem Gespräch aus und wurde hysterisch. Nur das Motiv wechselte von Fall zu Fall. Der Verdächtige begann zu schreien, verwies darauf, dass er Besseres zu tun hätte, dass seine Arbeitszeit zu kostbar sei, um sie auf dumme Gespräche mit dummen Mitarbeitern der dummen Miliz zu verschwenden. Ein Geschädigter, der sich mitschuldig fühlte, warf den Beamten Grausamkeit und Unmenschlichkeit vor, weil sie ihn in einem so tragischen Moment mit ihren Fragen belästigten.
»Lassen Sie mich in Ruhe. Bitte lassen Sie mich in Ruhe! Ich muss allein sein. Verstehen Sie das nicht? Sie sind eine Frau, von Ihnen kann ich Mitgefühl erwarten . . . Hören Sie auf, mich zu quälen . . .«
»Verzeihen Sie.«
Nastja löste sich vorsichtig von der Wand und ging hinaus in den Flur. Die Wohnungstür stand einen Spalt offen, man hörte die fröhliche, unverdrossene Stimme von Gurgen Artaschesowitsch Ajrumjan, der den neugierigen Nachbarn draußen im Treppenhaus von irgendwelchen spektakulären Fällen aus seiner Praxis als Gerichtsmediziner berichtete.
»Nastja«, hörte sie den Untersuchungsführer aus einem der Zimmer mit gedämpfter Stimme sagen, »mach dich fertig, wir hören auf für heute. Nimm Opa Gurgen und geh mit ihm zum Auto, wir bringen erst ihn nach Hause, dann dich.«
Sie ging hinaus, nahm Ajrumjan unter den Arm und zog ihn nach unten, zum Ausgang.
»Warum nehmen wir nicht den Lift?«, fragte der Alte keuchend, während er auf seinen kurzen dicken Beinchen schwerfällig die Stufen hinabstieg.
»So geht es schneller«, erklärte Nastja. »Wir befinden uns doch nur im zweiten Stock, und auf den Lift müssen wir hier mindestens zehn Minuten warten, das Haus hat fünfzehn Etagen.«
»Warum hast du es denn so eilig, mein Zauberfischlein?«
»Ich muss dringend eine rauchen, ich halte es nicht mehr aus. Erzählen Sie mir lieber, was Sie Interessantes von den Nachbarn erfahren haben.«
Der Gerichtsmediziner wurde lebendig.
»Oh, die Nachbarn hier sind großartig. Die Kunde davon, dass Sergijenkos Tochter ins Ausland gegangen ist, um den schnellen Rubel zu machen, hat sich im ganzen Haus verbreitet wie ein Lauffeuer. Du verstehst natürlich selbst, mein Zuckertäubchen, dass sie nach ihrer Rückkehr große Aufmerksamkeit auf sich zog. Wie ist sie gekleidet, was hat sie mitgebracht, wie geht sie, wie spricht sie und so weiter. Und es hat alle sehr erstaunt, dass Ljuba in genau denselben Röcken und Pullis herumlief wie vorher auch, sie fuhr keinen ausländischen Wagen und hatte auch sonst keinerlei Anzeichen neuen Reichtums an sich. Natürlich hat man sie nun erst recht beobachtet. Am liebsten hätte man ihr in den Mund geschaut, ob sie da nicht Platinzähne oder Brillantplomben versteckt hat. Es musste doch irgendwelche Spuren hinterlassen, wenn jemand ein halbes Jahr lang im Ausland Geld verdiente. Sie hatte schließlich nicht umsonst geschuftet in der Fremde. Kurz, Ljuba Sergijenko führt ein ganz unauffälliges, normales Leben, während sie rund um die Uhr von achtundzwanzig Augenpaaren beobachtet wird. Wenn du also wohlwollende Zeugen brauchst, meine herzliebste Ermittlerin, dann wende dich an diese Leute, sie
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