Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
wissen genau, wo Ljuba hingegangen ist, was sie gemacht hat und welchen Schlüpfer sie dabei trug. Mir ist eine Frau aufgefallen, die besonders gut informiert ist, sprich mal mit ihr.«
»Welche Frau?«
Sie hatten das Haus bereits verlassen und die Straße betreten, Nastja steckte sich genussvoll eine Zigarette an und lehnte sich gegen die Motorhaube von Olschanskijs blauem Shiguli.
»Sie wohnt ein Stockwerk tiefer, genau in der Wohnung unter den Sergijenkos. Sie hat nichts zu tun, hängt den ganzen Tag am Fenster, deshalb kann sie dir genau erzählen, wann und wie Ljuba das Haus verlassen hat. Und weißt du, mein Zuckerpüppchen, ich glaube, diese Frau weiß wirklich etwas über Ljuba. Sie hatte einen so schlauen und bedeutungsvollen Gesichtsausdruck. Ich rate dir, sie aufzusuchen, mein altes Herz fühlt, dass du hier fündig wirst. Hast du einen Regenschirm?«
»Einen Regenschirm? Nein. Wozu?«
»Was heißt wozu?«, empörte sich Ajrumjan. »Es regnet.«
»Tatsächlich? Das habe ich gar nicht bemerkt.«
»Du hast es nicht bemerkt, meine gepanzerte Schildkröte, weil du den Regen nicht fürchtest, denn du bist noch jung und dumm. Aber wenn ich nass werde, erkälte ich mich sofort, und das darf in meinem ehrenwerten Alter und bei meiner Kurzatmigkeit nicht mehr passieren. Bleib du also im Regen stehen, wenn dir das gefällt, aber ich gehe zurück ins Haus.«
Nastja hatte gerade zu Ende geraucht, als Olschanskij, Igor Lesnikow und Oleg Subow auf der Straße erschienen. Nach ihnen folgten die Sanitäter, die Ljubas Leiche auf einer Bahre trugen. Als Letzter trat Viktor Iwanowitsch aus dem Haus. Er war schrecklich anzusehen. Die Bahre wurde ins Auto geschoben, die Tür schlug zu, der Motor heulte auf. Lesnikow und Subow fuhren im Polizeiwagen davon, ihnen folgte Olschanskijs blauer Shiguli. Aber Viktor Iwanowitsch Sergijenko stand immer noch auf dem Trottoir, die Hände in den Hosentaschen, und sah in die Richtung, in der das Auto mit der Leiche seiner einzigen Tochter verschwunden war.
* * *
Als Nastja ihre Wohnung betrat, hörte sie sofort Stimmen aus dem Zimmer. Eine der Stimmen gehörte ihrem Mann, die andere war ihr unbekannt. Sie verzog gequält das Gesicht. Nach einem so schweren Tag, durchgeweicht vom Regen, wollte sie nur noch eine heiße Dusche nehmen und sich dann hinlegen, Ljoscha sollte ihr den Rücken mit einer Heilsalbe einreiben und sie anschließend in ein warmes Wolltuch einpacken. Aber nun würde sie warten müssen, bis der unbekannte Gast gegangen war. Sie schlich auf Zehenspitzen in die Küche und schloss die Tür zum Flur. Auf dem Herd standen eine Pfanne mit Fleisch und ein Topf mit gedünstetem Gemüse. Offenbar war Ljoscha schon seit längerer Zeit zu Hause und hatte bereits vor dem Eintreffen des Gastes das Abendessen zubereitet.
Nastja nahm den Deckel von der Pfanne und wollte gewohnheitsmäßig nach einem Kotelett greifen, um es ohne Beilagen, nur mit einem Stück Brot, zu verspeisen, aber plötzlich verspürte sie Ekel vor dem Essen. Noch vor einer Minute war sie völlig ausgehungert gewesen, aber jetzt hätte sie keinen einzigen Bissen hinuntergebracht. Wahrscheinlich war es die Müdigkeit. Sie stellte den Wasserkocher an, gab Pulverkaffee und zwei Stück Würfelzucker in eine Tasse, dann setzte sie sich an den Tisch, bemüht, nicht aufzustöhnen vor Schmerzen.
Die Stimmen wurden lauter, Nastja begriff, dass ihr Mann mit seinem Gast auf den Flur hinausgegangen war. Nach ein paar Minuten fiel die Wohnungstür ins Schloss, und Ljoscha betrat die Küche.
»Hallo.« Er bückte sich und küsste Nastja auf die Wange. »Warum isst du nichts? Wartest du wieder, bis man dir serviert?«
»Ich kann nicht, Ljoscha«, sagte sie mit einem schuldbewussten Lächeln und holte eine Zigarette aus der Packung. »Ich bekomme nichts hinunter.«
Ljoscha Tschistjakow ging um den Tisch herum, setzte sich seiner Frau gegenüber und sah sie aufmerksam an.
»Ist etwas passiert?«
»Nein, nichts. Es war einfach ein schwerer Tag . . .«
»Schwindle nicht.«
»Ich schwindle nicht.«
»Doch, du schwindelst. Ich sehe es dir doch an. Es kann nicht sein, dass du keinen Hunger hast. Wann hast du zum letzten Mal gegessen?«
»Gestern. Heute habe ich nur ein paar Tassen Kaffee getrunken.«
»Da haben wir es. Wenn du nicht essen kannst, muss etwas passiert sein. Komm schon und erzähl, verschwende deine Kraft nicht darauf, mir etwas vorzumachen.«
»Ljoscha, ich hasse meine Arbeit«, platzte Nastja heraus,
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