Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
unerwartet für sich selbst.
»Das klingt schon ernsthafter«, stellte Ljoscha befriedigt fest. »Und was hat dich heute so aus der Fassung gebracht?«
»Ich hasse meine Arbeit, ich hasse mich selbst, ich hasse die, die mich zwingen, das zu tun, was ich tue . . . O mein Gott, ich weiß selbst nicht, was ich rede. Hör nicht auf mich.«
»Warum denn nicht? Das ist doch sehr interessant«, lächelte Ljoscha. »Jedenfalls sagst du das in den vierzehn Jahren deiner Dienstzeit bei der Miliz zum ersten Mal. Also, Nastja, was ist passiert?«
»Eine junge Frau hat sich das Leben genommen. Ihre Mutter ist nach Hause gekommen, hat sie in der Schlinge hängend gefunden und ist ohnmächtig geworden. Dann kam der Vater nach Hause und hat die Miliz und die Erste Hilfe angerufen . . . Kannst du dir vorstellen, in welchem Zustand er war? Und ich musste ihn ausfragen und versuchen, ihn der Lüge zu überführen. Seine Tochter ist wahrscheinlich eine Kriminelle, eine Mörderin, er weiß das, und ich wollte ihn zwingen, mir zu sagen, dass sie ihre Freundin umgebracht und dann, wahrscheinlich aus Entsetzen über ihre eigene Tat, Hand an sich selbst gelegt hat. Wer bin ich nach alledem? Wie nennt man das, was ich getan habe? Bin ich ein Monster? Bin ich grausam und unmoralisch? Warum muss ich das tun, obwohl ich weiß, dass es falsch ist?«
»Ruhig, Nastja, ruhig.« Ljoscha hob beschwichtigend die Hand. »Eins nach dem andern. Warum hast du es getan, wenn du gewusst hast, dass es falsch war? Hast du auf jemandes Anweisung gehandelt oder es selbst für notwendig gehalten?«
»Ich habe es selbst für notwendig gehalten«, seufzte Nastja. »Aber der Untersuchungsführer war damit einverstanden. Zuerst hat Igor Lesnikow mit dem Vater der Verstorbenen gesprochen, aber als der Untersuchungsführer Indizien dafür entdeckt hatte, dass das Mädchen wahrscheinlich die Mörderin ihrer Freundin war, hat er mich auf den Vater angesetzt. Ich sollte ihm den Rest geben.«
»Willst du damit sagen, dass der Untersuchungsführer genau wusste, in welchem Zustand der Vater war, und dass er diesen Zustand ausnutzen wollte?«
»Ja, genau das will ich damit sagen. Aber behandle mich bitte nicht wie ein kleines Kind und beschönige die Fakten nicht. Ich wollte das ebenfalls. Ich wollte es nicht nur, ich habe es auch getan. Das ist schrecklich, verstehst du? Das ist brutal. Ich habe das alles gewusst, und ich habe es trotzdem getan. Weil es meine Aufgabe ist, Verbrechen aufzuklären und Mörder zu fassen. Meine Berufspflicht. Eine Arbeit, für die ich vom Staat bezahlt werde. Ich bin völlig verwirrt und verstehe überhaupt nichts mehr. Bin ich eine Idiotin?«
»Ja. Aber keine unheilbare, da du danach fragst. Ein wirklicher, ein klassischer Idiot ist überzeugt von seiner Genialität. Aber da du an dir zweifelst, bist du noch nicht verloren für die Gesellschaft. Warum hast du dich denn so beeilt? War es wirklich notwendig, die Aussage des Vaters schon heute zu bekommen? Hättest du nicht bis morgen warten können? Wenn ich es recht verstanden habe, war das Mädchen, das seine Freundin umgebracht hat, ebenfalls nicht mehr am Leben. Also konnte es euch ja nicht mehr entkommen. Warum musstest du dich auf diesen armen Mann stürzen?«
»Das ist es ja. Wahrscheinlich war es einfach Instinkt. Eine berufsbedingte psychische Deformation. Man fällt wildwütig über jede Information her, die man bekommen kann. Wenn ein Mensch erschüttert ist und sich nicht in der Hand hat, kann man ihn leichter zu einer Aussage bringen, das ist bekannt und wird immer ausgenutzt. Man überlegt sich sogar Taktiken, um einen Menschen aus dem Gleichgewicht zu bringen und ihn dann zu zwingen, das zu sagen, was er unbedingt verschweigen wollte. Du hast Recht, es war keine Eile nötig. Das Mädchen war bereits tot, es bestand weder Fluchtgefahr, noch hätte es irgendwelche Indizien vernichten können. Und ich habe mich trotzdem auf seinen Vater gestürzt. Genau das ist so widerlich.«
»Nun, dann lerne aus deinen Fehlern. Das nächste Mal wirst du es dir überlegen, bevor du versuchst, einen Menschen so unter Druck zu setzen. Das ist die ganze Geschichte. Es ist keine Katastrophe passiert. In Zukunft wirst du vorsichtiger sein. Schluss, Nastja, hiermit ist der Trauergottesdienst für deine in Unmoral entschlafene Seele beendet. Was geschehen ist, ist geschehen. Einigen wir uns darauf, dass es vom Standpunkt der Moral falsch war, aber bis zu einem gewissen Grad berechtigt, da es im
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