Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
nur verstehen, was Ljuba den ganzen Tag gemacht hat, was in ihr vorging, wo sie hingegangen ist, mit wem sie gesprochen hat. Sie hat sich das Leben ja nicht einfach so genommen. Sie hat nicht im Affekt gehandelt, sondern lange nachgedacht und diesen Schritt geplant. Und für mich ist es wichtig zu erfahren, warum das alles so war.«
»Woher wissen Sie das?«
In Sergijenkos Augen blitzte ein Funken Interesse auf, so, als hätte er in dem ganzen Gespräch zum ersten Mal etwas gehört, das ihn etwas angehen könnte.
»Wir haben bei ihr das Neue Testament mit handschriftlichen Randnotizen gefunden. Wenn es Ljuba war, die diese Notizen gemacht hat, dann muss sie lange über Sünde, Schuld und Strafe nachgedacht haben. Um welche Sünde könnte es sich handeln, Viktor Iwanowitsch?«
»Ich weiß nicht«, sagte er.
Aber Nastja sah, dass er log. Sergijenko wusste etwas. Oder er ahnte zumindest etwas. Wie sich alles auf der Welt gleicht, dachte sie. Strelnikow hat die an seine Braut gerichteten Liebesbriefe versteckt, um zu verhindern, dass ein Schatten auf ihr Andenken fällt. Viktor Iwanowitsch Sergijenko weiß etwas Ungutes über seine Tochter, aber auch er schweigt, um ihrem Ruf nicht zu schaden. Dabei konnte man jetzt niemandem mehr schaden, weder Mila Schirokowa noch Ljuba, ihnen war das alles völlig gleichgültig.
»Kannten Sie Mila Schirokowa, die Freundin Ihrer Tochter?«
»Nein.«
Sergijenko sagte das so schnell, dass auch jetzt klar war, dass er log. Natürlich kannte er Mila.
»Aber Sie wussten, dass Ihre Tochter mit Mila befreundet war, oder?«
»Ja, natürlich. Ljuba hat erzählt, dass sie mit einer Freundin in die Türkei fährt, mit der sie auf dem College war und später zusammengearbeitet hat.«
»Und wussten Sie auch, dass es diese Freundin war, die ermordet wurde?«
»Ja, die Miliz war hier und hat Ljuba nach Mila gefragt. Von meiner Frau und mir wollte man wissen, ob Mila nach ihrer Rückkehr aus der Türkei bei uns war, um uns Post oder etwas anderes von Ljuba zu überbringen.«
Nastja bemerkte, dass Viktor Iwanowitschs Antworten klarer und präziser wurden, er hatte sich offenbar ein wenig gefasst. Wahrscheinlich hatte ihn etwas erschreckt oder in Spannung versetzt, und jetzt nahm er sich zusammen, um keinen Fehler zu machen und nichts von dem preiszugeben, was er verschweigen wollte.
»Wie hat Ihre Tochter auf den Tod ihrer Freundin reagiert?«
»Nun ja . . .«
Sergijenko kam wieder ins Schwimmen. Nastja hatte ihm, sich innerlich selbst verfluchend, eine ganz einfache Falle gestellt, und er war sofort hineingetappt. Es war natürlich eine Schande, psychologische Experimente mit einem Menschen zu machen, der sich in einem solchen Zustand befand, aber was sollte man tun angesichts von zwei Leichen und der Tatsache, dass es nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür gab, wer der Mörder war. Hatte Ljuba Sergijenko vielleicht tatsächlich ihre Freundin Mila Schirokowa umgebracht? Das wäre die einfachste Lösung gewesen. Dann hätte man schnell die nötigen Beweise aufnehmen, die entsprechenden Gutachten anfertigen und den Fall abschließen können, da die für den Mord verantwortliche Person nicht mehr am Leben war.
»Ich verstehe eines nicht, Viktor Iwanowitsch«, sagte Nastja so sanft wie möglich, »Mila war eine enge Freundin von Ljuba, und sie ist nach ihrer Rückkehr aus der Türkei kein einziges Mal bei Ihnen vorbeigekommen, selbst dann nicht, als Ljuba wieder hier war. Versetzen Sie sich doch bitte einmal in Ihre Tochter, und Sie werden sofort verstehen, warum ich mich so wundere. Sie befinden sich irgendwo im Ausland, arbeiten dort, verdienen Geld, und plötzlich sagt Ihnen ein Freund: Ich fahre nach Moskau. Soll ich etwas für deine Eltern mitnehmen? Sie werden noch für längere Zeit im Ausland bleiben, noch mehrere Monate, Sie denken oft an zu Hause und haben Heimweh. Werden Sie denn in einem solchen Fall die Gelegenheit ungenutzt lassen, einen Brief zu schreiben und Ihren Eltern etwas mitzugeben, wenigstens irgendein billiges Souvenir, um ihnen auf diese Weise zu sagen, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist, dass Sie an sie denken und sie lieben? Ljuba war doch eine gute Tochter, die ihre Eltern geliebt hat, nicht wahr?«
»Ja, sie war ein gutes Mädchen.«
»Warum hat sie dann die Gelegenheit nicht genutzt, um Mila etwas für Sie mitzugeben? Ich erwarte keine Antwort von Ihnen, weil Sie die Antwort nicht kennen. Aber Sie haben gesagt, dass Ljuba nach ihrer Rückkehr sehr
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