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Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes

Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes

Titel: Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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doch auf der Beerdigung, oder?«
    »Nein.«
    »Wie ist das möglich? Wollte er sich denn nicht von Nadeschda verabschieden?«
    »Wir haben ihm nicht Bescheid gesagt.«
    »Warum?«
    »Wozu hätte es gut sein sollen? Er hat unsere Mutter verlassen. Sie ist seinetwegen gestorben. Es gab keinen Grund, ihn zu informieren. Das haben Natascha und ich so entschieden.«
    »Aber das ist sehr hart gegen deinen Vater«, sagte Larissa. »Millionen von Männern trennen sich von ihren Frauen, den Müttern ihrer Kinder. Sie trennen sich aus den verschiedensten Gründen. Und es geschieht äußerst selten, dass eine Frau sich deshalb das Leben nimmt. Das hat nicht der Mann zu verantworten, sondern ganz allein die Frau, die sich so entscheidet. Warum habt ihr, deine Schwester und du, deinen Vater der Möglichkeit beraubt, sich von Nadeschda zu verabschieden? Was gibt euch das Recht, Entscheidungen für andere zu treffen? Erinnere dich einmal an deine eigene Kindheit. Es hat dich immer geärgert, dass die Erwachsenen für dich entschieden haben, dass sie dir vorschrieben, was du essen, was du anziehen, wann du schlafen gehen musst. Du warst der Meinung, dass du das selbst am besten weißt. Und jetzt tust du dasselbe, indem du dich über den freien Willen anderer hinwegsetzt. Du willst nicht, dass ich Nataschas Vater treffe. Du hast deinen eigenen Vater von der Beerdigung deiner Mutter fern gehalten. Was gibt dir das Recht, über das Leben anderer zu verfügen?«
    »Ich verfüge über niemanden«, erwiderte Viktor barsch. »Ich halte es einfach nicht für nötig, Dinge zu tun, die mir unangenehm sind. Ich wollte meinen Vater nicht auf der Beerdigung meiner Mutter sehen, das ist alles. Wobei es weniger um mich ging, denn immerhin handelt es sich um meinen eigenen Vater, aber für Natascha wäre das alles noch viel schwerer gewesen. Für sie ist er überhaupt niemand, und seinetwegen haben wir unsere Mutter verloren. Ich wollte nicht, dass Natascha noch mehr leiden muss. Ich kann ihn nicht sehen! Und ich will es auch nicht! Hätte er uns nicht verlassen, wäre meine Mutter noch am Leben.«
    Larissa sah, dass der Junge drauf und dran war, die Fassung zu verlieren. Sie war Psychiaterin mit großer Berufserfahrung und konnte einen Menschen zum Sprechen bringen, ihn für sich einnehmen und erreichen, dass er ihr intime, schwer wiegende Dinge aus seinem Leben erzählte. Aber sie wusste auch, wann es an der Zeit war, solche Gespräche zu beenden, weil der Patient keine Kraft mehr hatte, in schweren, qualvollen Erinnerungen herumzuwühlen.
    »Nun gut«, sagte sie und erhob sich von dem unbequemen niedrigen Sofa. »Wenn du nicht weißt, wie ich deinen Vater finden kann, dann sag mir wenigstens seinen Namen. Ich werde versuchen, ihn selbst zu finden.«
    »Ich sage Ihnen überhaupt nichts. Ich will nicht, dass Sie ihn suchen.«
    »Und warum nicht?«
    »Weil Sie ihm mit Sicherheit Vorwürfe machen werden. Sie werden an sein Gewissen und an sein Mitleid appellieren. Und dann wird er womöglich hier auftauchen.«
    »Und was wäre daran so schlimm?«
    »Ich will es nicht. Und Natascha will es auch nicht. Wir wollen nicht, dass er die Schwelle unseres Hauses Übertritt. Dazu hat er kein Recht. Ich hasse ihn. Mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen, Larissa Michajlowna, bitte gehen Sie jetzt. Ich habe Ihnen ohnehin schon zu viel Zeit geopfert, ich muss wieder arbeiten . . .«
    Viktors Stimme wurde immer lauter und schriller, und Larissa begriff, dass sie jetzt tatsächlich gehen musste. Sie schlüpfte hastig in ihren Mantel und verließ die Wohnung, irgendwelche überflüssigen Entschuldigungen und beschwichtigende Worte murmelnd.
    Auf der Straße angelangt, schlug Larissa langsam den Weg zur Straßenbahnhaltestelle ein und dachte über ihre weitere Vorgehensweise nach. Sie konnte natürlich versuchen, mit der Tochter der Verstorbenen zu sprechen, vielleicht war Natascha etwas zugänglicher als ihr Halbbruder, der nervöse Philosophiestudent. Aber das ergab wenig Sinn, denn Natascha kannte den Namen ihres Vaters mit Sicherheit auch nicht. Alexandrowna! Keiner der drei jungen Männer auf dem Foto hieß Alexander. Aber die Zukanowa behauptete, dass einer von ihnen Nataschas Vater war. Der Einzige, der die Wahrheit kennen konnte, war Viktors Vater. Natürlich wussten die beiden genau, wo er zu finden war. Aber würde Natascha es ihr sagen, nachdem Viktor es verschwiegen hatte? Larissa musste ihr Interesse an diesem Mann irgendwie begründen. Was sollte sie

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