Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
das? Hat deine Mutter es dir gegenüber erwähnt?«
»Ja, ein einziges Mal ließ sie beiläufig ein paar Worte fallen. Wir haben mit meinem Vater alte Fotos angeschaut, weil meine Mutter ihm zeigen wollte, wie sie als Kind ausgesehen hat. Sie hat damals dieses Foto lange angeschaut und die Lippen zusammengepresst, bis sie blau wurden. Mein Vater hat es bemerkt und gefragt, was los ist. Aber meine Mutter antwortete nicht, sondern blätterte weiter in dem Album. Später, ich war in der Küche, hörte ich meinen Vater fragen: Nadeschda, wer war das auf dem Foto? Warum warst du plötzlich so seltsam? Und meine Mutter erwiderte: Einer von diesen dreien ist Nataschas Vater.«
»Und das war alles? Sonst hat sie nichts gesagt?«
»Ich habe nichts mehr gehört, ich habe nicht darauf geachtet. Mein Vater und meine Mutter haben noch lange miteinander geredet, ich habe gehört, wie mein Vater sogar laut wurde, aber ich habe nicht verstanden, worum es ging.«
Also hatte Nadeschda Romanowna wenigstens mit Viktors Vater über die Sache gesprochen. Das war schon einmal gut. Und natürlich war es verständlich, dass sie ihren Kindern nichts von dieser Geschichte erzählen wollte. Welche Mutter würde ihren Kindern so etwas gestehen! Der Vater dieses Jungen musste dringend gefunden werden.
»Wo ist dein Vater, Viktor? Lebt er nicht mit euch?«
Viktor zuckte irgendwie seltsam mit den Schultern, es war, als würde sich sein ganzer Körper verkrampfen.
»Sagen Sie, Larissa Michajlowna, finden Sie eigentlich nicht, dass Sie reichlich neugierig sind?«
»Entschuldige«, erwiderte Larissa schnell. »Ich wusste nicht, dass dir auch dieses Thema unangenehm ist. Bitte sei mir nicht böse, Viktor, ich kenne eure Familienverhältnisse nicht und kann nicht wissen, wann und wo ich wunde Stellen berühre. Ich habe einfach gedacht, deine Mutter könnte deinem Vater auch den Namen von Nataschas Vater genannt haben, da sie mit ihm über diese Geschichte gesprochen hat. Das wäre doch immerhin möglich, oder?«
»Es wäre möglich«, stimmte Viktor unwillig zu. »Und was weiter?«
»Ich würde deinen Vater gern treffen«, sagte Larissa entschieden. »Wo kann ich ihn finden?«
»Ich verstehe trotzdem nicht, warum Sie so hinter diesem Alexander her sind, der meine Mutter damals im Stich gelassen hat«, sagte Viktor trotzig. »Was mich betrifft, so habe ich nicht das geringste Bedürfnis, ihn kennen zu lernen. Und es liegt mir nichts daran, dass er etwas über meine Mutter und Natascha erfährt. Warum mischen Sie sich in unser Leben ein?«
»Viktor, ich habe dir schon erklärt, dass alles vielleicht nicht so einfach ist, wie du es dir vorstellst. Jeder Mensch trifft seine eigenen Entscheidungen, das geht niemanden etwas an, aber er kann die richtige Entscheidung nur dann treffen, wenn er ausreichend informiert ist. Und er hat das Recht darauf, die nötigen Informationen zu bekommen. Wenn Nataschas Vater nichts von deiner Mutter und seinem eigenen Kind wissen wollte, dann heißt das nicht automatisch, dass er ein Schuft war. Es könnte auch sein, dass er nicht ausreichend informiert war.«
»Sind Sie Philosophin?«, fragte Viktor mit einen spöttischen Lächeln.
Nein, ich bin Ärztin, hätte Larissa fast gesagt, aber sie biss sich rechtzeitig auf die Zunge. Wie konnte sie Ärztin sein, wenn sie angeblich an derselben Fakultät studiert hatte wie die Zukanowa.
»Nein, ich bin keine Philosophin. Aber mein Mann ist Arzt«, log sie. »Und deshalb weiß ich sehr gut, dass eine Diagnose, die auf der Grundlage einer unvollständigen Anamnese gestellt wird, sehr fatale Folgen für den Patienten haben kann. Verstehst du, was ich meine?«
»Durchaus. Ich bin schließlich kein Kind mehr. Und übrigens studiere ich Philosophie. Warum nehmen Sie sich diese Geschichte so zu Herzen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht deshalb, weil ich deine Mutter sehr gemocht habe. Also, wo kann ich deinen Vater finden?«
»Ich habe keine Ahnung. Er hat uns verlassen, und seitdem habe ich keinen Kontakt mehr zu ihm.«
»Wann hat er euch verlassen? Nach dem Tod deiner Mutter? Hat er dich und deine Schwester einfach eurem Schicksal überlassen?«
»Bitte übertreiben Sie nicht. Natascha ist bereits erwachsen, und ich bin es auch. Aber er ist schon gegangen, bevor meine Mutter . . .«
Viktor verstummte plötzlich und wurde blass. Larissa erahnte, was geschehen war.
»Deine Mutter ist mit dieser Trennung nicht fertig geworden, ja?«
Viktor nickte stumm.
»Aber er war
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