Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
und überreden, das alles kostete Zeit und Kraft, aber sie gab nicht auf. Sie wollte nur allzu gern wissen, wer in jener lang zurückliegenden Silvesternacht den hilflosen Zustand des betrunkenen, tief schlafenden Mädchens ausgenutzt hatte. Und vor allem wollte sie, dass Wladimir Strelnikow sich als der Täter erwies.
Bei der fünften Wohnung, die sie aufsuchte, öffnete ihr ein lang aufgeschossener, dünner junger Mann im Alter von achtzehn, neunzehn Jahren die Tür. Er sah dem Mädchen in dem weißen Pullover so ähnlich, dass Larissa keinen Augenblick daran zweifelte, dass sie hier richtig war.
»Guten Tag«, sagte der junge Mann freundlich und sah die fremde Frau durch seine dicken Brillengläser aufmerksam an. »Zu wem möchten Sie?«
»Zu Nadeschda Romanowna.«
»Wer sind Sie denn?«
»Wir haben einst am selben Institut studiert. Inzwischen sind fast zwanzig Jahre seit unserem Examen vergangen, und wir möchten ein Absolvententreffen veranstalten . . .«
Larissa verstummte unter dem durchdringenden Blick des jungen Mannes.
»Meine Mutter ist tot«, sagte er kurz.
Larissa stand peinlich berührt vor der Tür und wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Sie war dem Ziel schon so nah gewesen, und nun dies. Irgendwie musste sie auf die Eröffnung des jungen Mannes reagieren.
»Entschuldige. Das habe ich nicht gewusst. Wann ist das passiert?«
»Es liegt noch gar nicht so lange zurück. Noch nicht einmal ein Jahr.«
»War deine Mutter krank?«
»Nein.«
»Ein Unglücksfall?«
»Nein. Meine Mutter hat sich umgebracht. Sie wollte nicht mehr leben. Sie werden das Absolvententreffen ohne sie veranstalten müssen.«
»Das tut mir sehr Leid«, murmelte Larissa verwirrt und schickte sich zum Gehen an.
Die Tür schloss sich, aus dem Innern der Wohnung drang das Geräusch sich entfernender Schritte. Larissa wollte bereits in den Lift einsteigen, aber dann überlegte sie es sich anders, sie ging ein Stockwerk tiefer und lehnte sich gegen die schmale, schmutzige Fensterbank. Hinter dem Heizkörper klemmte eine Kaffeedose, die bis zur Hälfte mit Zigarettenkippen gefüllt war. Wahrscheinlich war das der Stammplatz für die Raucher unter den Hausbewohnern, denen das Rauchen in der Wohnung verboten war.
Larissa holte eine Zigarette aus der Packung und schnippte mit dem Feuerzeug. Wie dumm alles gelaufen war! Und so peinlich vor dem Jungen. Die Mutter tot, und Larissa war gekommen, um sie zu einem Absolvententreffen einzuladen! Es war ihm wahrscheinlich sehr unangenehm, Fremden solche Auskünfte geben zu müssen.
Allerdings konnte dieser Junge nicht die Frucht jener alten Geschichte sein, dazu war er zu jung. Wenn die Zukanowa sich damals entschlossen hatte, das Kind zur Welt zu bringen, dann musste es jetzt mindestens sechsundzwanzig Jahre alt sein, und dieser Junge mit den aufmerksamen Augen hinter den dicken Brillengläsern konnte nicht älter sein als zwanzig. Ob er wohl ein eheliches Kind war? Wenn ja, warum hatte die Zukanowa dann immer noch ihren Mädchennamen? Vielleicht hatte sie sich scheiden lassen und den alten Namen wieder angenommen. Aber schließlich hatte das alles keine Bedeutung. Musste Larissa sich nun tatsächlich von ihrem Vorhaben verabschieden? Sie hatte so viel Zeit in die Suche investiert. Sollte das nun alles umsonst gewesen sein?
Sie drückte entschieden ihre Zigarette aus und stieg wieder zur Wohnung der Zukanowa hinauf. Dieses Mal wurde die Tür lange nicht geöffnet, doch endlich hörte man das Geräusch des Schlosses.
»Wieder Sie?« Die Stimme des jungen Mannes klang diesmal nicht sehr freundlich.
»Entschuldige bitte, aber ich würde mich sehr gern einmal mit dir unterhalten. Darf ich eintreten?«
»Bitte«, erwiderte er unwillig. »Die Schuhe brauchen Sie nicht auszuziehen, bei uns ist morgen sowieso Großputz.«
Bei uns, hatte er gesagt. Mit wem er diese Wohnung wohl teilte? Mit dem Vater? Oder vielleicht mit jenem inzwischen erwachsenen Kind der Zukanowa? Oder war er womöglich schon verheiratet?
Larissa legte ihren Mantel ab und folgte dem Jungen in ein großes Zimmer, in dem überall Bücher und Hefte herumlagen. Es sah so aus, als würde der junge Mann noch studieren. Larissa wusste nicht so recht, wie sie das Gespräch beginnen sollte, um das zu erfahren, was sie wissen wollte. Aber irgendwie musste sie beginnen, da sie nun einmal zurückgekommen war.
»Weißt du, es hat mich ziemlich verwirrt, als ich von dir gehört habe, dass Nadeschda nicht mehr am Leben ist. Ich
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