Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
aufzuregen.«
»Haben die Kinder gewusst, dass Sie mit ihm gesprochen haben?«
»Nein, ich habe es ihnen nicht gesagt. Wozu auch, wenn sie nichts von ihm wissen wollen . . . Es hat wahrscheinlich wenig Sinn, ihn zu suchen. Sogar dann, wenn er sich besinnt und beschließt, seinen Sohn zu unterstützen, werden die Kinder seine Hilfe nicht annehmen.«
»Woher wissen Sie das? Sie haben selbst gesagt, dass Sie seit Nadeschda Romanownas Tod keinen Kontakt mehr zu ihnen haben. Vielleicht sehen sie die Sache inzwischen anders. Immerhin ist seitdem ein ganzes Jahr vergangen, wer weiß, was sich inzwischen verändert hat.«
»Verzeihen Sie, darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?«
»Ich heiße Larissa Michajlowna.«
»Also, Larissa Michajlowna, ich bin nicht von gestern und arbeite auch nicht erst seit heute als Inspektor. Und sollten Sie der Meinung sein, dass ich von meiner Arbeit nichts verstehe oder sie nicht ernst nehme, dann irren Sie sich gewaltig.« Barulin klang sehr verärgert, und Larissa befürchtete, dass sie mit ihrer Taktlosigkeit alles verdorben hatte. »Es liegt mir nicht, Menschen wegen Kleinigkeiten zu behelligen. Wenn sie sich nicht selbst an mich wenden, dann sehe ich keinen Grund, mich ihnen aufzudrängen. Die Beaufsichtigung der Menschen in meinem Revier steht auf einem ganz anderen Blatt. Ich habe in jedem Haus Leute, die alles über alle wissen. Und gäbe es mit Viktor Zukanow irgendwelche Probleme, wäre ich der Erste, der davon erfahren würde.«
»Ich bitte Sie«, sagte Larissa schuldbewusst, »seien Sie mir nicht böse, Genosse Oberleutnant. Sie haben mich missverstanden. Ich bezweifle nicht, dass es Ihnen nicht verborgen bliebe, wenn Viktor in Schwierigkeiten geraten würde, aber ich spreche doch von etwas ganz anderem. Vielleicht hat Viktor aufgehört, seinem Vater zu zürnen, vielleicht hat er ihm verziehen und wäre jetzt bereit, Hilfe von ihm anzunehmen.«
»Und ich sage Ihnen, dass er dazu nicht bereit ist. Er hat ihm nicht verziehen«, entgegnete Barulin mit erhobener Stimme. »Er nimmt nicht einmal seinen Namen in den Mund.«
Larissa begriff, dass Barulin diese Information von einem jener erwähnten Nachbarn bekommen hatte, die alles wussten. Sie versuchte, ihre Stimme so flehentlich wie möglich klingen zu lassen.
»Lassen Sie es mich doch zumindest versuchen, ich bitte Sie sehr darum. Für einen jungen Mann ist es doch immer sehr schmerzhaft, wenn er keinen Vater hat, er braucht unbedingt eine männliche Bezugsperson. Ich werde versuchen, Viktor von seiner Meinung abzubringen. Sagen Sie mir bitte, wer sein Vater ist.«
»Nun gut.«
Der Inspektor erhob sich mit einem Seufzer und ging zum Safe. Er holte ein dickes, abgegriffenes Heft hervor und begann, darin zu blättern.
»Hier. Viktor Alexandrowitsch Derbyschew, Tuchatschewskij-Straße zwölf, Block zwei, Wohnung neununddreißig. Nur wird das alles zu nichts führen, glauben Sie mir. Aber sollte es Ihnen tatsächlich gelingen, Vater und Sohn miteinander zu versöhnen, wird mich das als zuständigen Revierbeamten natürlich beruhigen.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Larissa gerührt, nachdem sie die Adresse aufgeschrieben hatte.
»Keine Ursache. Auf Wiedersehen. Sagen Sie draußen Bescheid, dass der Nächste hereinkommen kann.«
Sie verließ beflügelt das Revier. Viktor Alexandrowitsch Derbyschew also. Jetzt musste sie einen Weg finden, um mit ihm in Kontakt zu kommen und sein Vertrauen zu gewinnen, damit er ihr erzählte, wer Nadeschda vor siebenundzwanzig Jahren vergewaltigt hatte.
Zehntes Kapitel
Tomtschak wohnte immer noch auf der Datscha, und im Moment war Larissa das nur recht. Es ersparte ihr Erklärungen, wenn sie aus dem Haus ging und lange wegblieb, zuerst auf der Suche nach Nadeschda Zukanowa und jetzt nach Viktor Derbyschew. Nachdem sie sein Haus gefunden und einen langen Abend im Treppenhaus zwischen zwei Stockwerken verbracht hatte, erblickte sie endlich den Mann, der Nadeschda Zukanowa nach zwanzig Jahren verlassen hatte. Er sah sehr gut aus, keine Frage, ein stattlicher, teuer gekleideter Mann. Leider kam er nicht allein nach Hause, sondern in Begleitung einer Dame, sodass Larissa die Kontaktaufnahme mit ihm verschieben musste.
Der nächste Tag war arbeitsfrei, und Larissa bezog schon am frühen Morgen Posten in der Nähe seines Hauses, ohne dabei ihr Auto zu verlassen. Sie wusste immer noch nicht, unter welchem Vorwand sie Derbyschew ansprechen sollte, deshalb beschloss sie, ihn fürs Erste ein wenig zu
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