Anathem: Roman
recht verstehe«, sagte Ignetha Foral, »wurde die
Richtigkeit dieser Idee – dass jene Zahlen kontingent sind – bewiesen. Und zwar durch unsere Fähigkeit, Neustoff herzustellen.«
»Das ist die übliche Interpretation«, sagte Moyra.
»Wenn du von ›Frühgeschichte des Universums‹ sprichst«, warf Lodoghir ein, »wie früh …«
»Wir reden hier von einem unendlich kleinen Augenblick gleich nach dem Urknall«, sagte Moyra, »als sich aus einem Meer von Energie die ersten Elementarteilchen gebildet haben.«
»Und die Behauptung lautet, dass sie sich auf ganz bestimmte Weise gebildet haben«, sagte Lodoghir, »sich aber auch etwas anders hätten bilden können – was dann zu einem Kosmos mit anderen Konstanten und anderer Materie geführt hätte.«
»Genau«, sagte Moyra. »Wie können wir das, was gerade gesagt wurde, in die Sprache übersetzen, die Fraa Jad bevorzugt, das heißt, in die Rede von Narrativen im Konfigurationsraum?«, fragte Ignetha Foral.
»Ich versuche es mal«, sagte Paphlagon. »Wenn wir unsere Weltspur – die Reihe von Punkten im Konfigurationsraum, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unseres Kosmos darstellt – zeitlich rückwärts verfolgten, würden wir Konfigurationen beobachten, die heißer und heller, dichter geballt sind – als ließen wir eine photomnemonische Tafel von einer Explosion rückwärts laufen. Das würde uns in Bereiche des Hemnraums führen, die kaum als Kosmos erkennbar wären: die Augenblicke kurz nach dem Urknall. An irgendeiner Stelle würden wir, wenn wir rückwärts gingen, zu einer Konfiguration gelangen, bei der die physikalischen Konstanten, von denen wir hier geredet haben …«
»Diese zwanzig Zahlen«, sagte Suur Asquin.
»Ja, an dem sie noch nicht einmal definiert wären. Ein Ort, der so anders wäre, dass die Konstanten bedeutungslos wären – sie hätten keinen Wert, weil sie noch die Freiheit hätten, jeden Wert anzunehmen. Und bis zu diesem Punkt in der Geschichte, die ich euch erzähle, gibt es eigentlich keinen Unterschied zwischen dem alten Bild vom einen Universum und dem Bild von der Weltspur im Hemnraum.«
»Nicht einmal dann, wenn man den Neustoff in Betracht zieht?«, fragte Lodoghir.
»Nicht einmal dann, denn die Neustoffhersteller haben ja nichts anderes getan, als eine Maschine zu bauen, die entsprechend hohe
Energien erzeugen konnte, um dann im Labor ihre eigenen kleinen Urknalle hervorzurufen. Jetzt aber, mit den Laboratoriumsergebnissen von heute Vormittag, ist neu für uns, dass man sich, wenn man auf die gleiche Weise die Weltspuren von Antarkt, Pangäa, Diasp und Quator zurückverfolgte, in einem sehr ähnlichen Teil des Hemnraums wiederfände.«
»Die Narrative laufen zusammen«, sagte Fraa Jad.
»Wenn man rückwärts geht, meinst du«, sagte Zh’vaern.
»Es gibt kein Rückwärts«, sagte Fraa Jad.
Das sorgte für einige Augenblicke Schweigen.
»Fraa Jad glaubt nicht an die Existenz der Zeit«, sagte Moyra, doch sie hörte sich so an, als ginge ihr das im selben Moment auf, in dem sie es sagte.
»Ah, gut! Ein wichtiges Detail, das«, sagte Suur Tris in der Küche, und ausnahmsweise brachte niemand sie zum Schweigen. Wir standen nun schon einige Minuten lang um ein paar Dessertteller herum und warteten auf den richtigen Moment, sie aufzutragen.
»Ich empfehle, dass wir uns nicht mit der Frage verzetteln, ob die Zeit existiert«, sagte Paphlagon zur fast hörbaren Erleichterung aller anderen. »Das Entscheidende ist, dass bei dem Modell, das die fünf Kosmen – Arbre und die der vier Geometerrassen – als Kurven im Hemnraum sieht, diese Kurven in der Nachbarschaft des Urknalls extrem dicht beieinanderliegen. Und wir könnten sogar fragen, ob sie bis zu einem bestimmten Punkt nicht identisch waren, einem Punkt, an dem etwas geschah, das dafür sorgte, dass sie auseinanderstrebten. Vielleicht ist das eine Frage für ein anderes Messale. Vielleicht würden es nur Deolatisten wagen, sich daran zu versuchen.« In der Küche riskierten wir einen flüchtigen Blick auf Zh’vaerns Servitor. »Jedenfalls gelangten die verschiedenen Weltspuren zu leicht unterschiedlichen physikalischen Konstanten. Und so könnte man sagen, dass, selbst wenn wir mit einem Geometer, der uns ähnlich zu sein scheint, in einem Zimmer säßen, die Tatsache bleibt, dass er in den Kernen seiner Atome eine Art Fingerabdruck trägt, der beweist, dass er aus einem anderen Narrativ kommt.«
»So wie unsere genetischen Sequenzen eine Geschichte
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