Anathem: Roman
jeder Mutation, jeder Anpassung, jedes Vorfahren bis zum ersten jemals lebenden Geschöpf in sich tragen«, sagte Suur Moyra, »ist in dem
Stoff, aus dem die Geometer bestehen, das beschlossen, was Fraa Jad das Narrativ ihres Kosmos nennt, und zwar bis zu dem Punkt im Hemnraum, an dem wir uns auseinanderentwickelt haben.«
»Weiter«, sagte Fraa Jad. Worauf das obligatorische Schweigen eintrat, das den meisten Äußerungen Jads folgte; doch diesmal wurde es von einem Lachen Lodoghirs gebrochen.
»Ah, ich verstehe! Endlich! Wie dumm von mir, Fraa Jad, dass ich das Spiel nicht durchschaut habe, das du spielst. Aber jetzt endlich erkenne ich, wohin du uns so raffiniert geführt hast: zur Hyläischen Theorischen Welt!«
»Hmm, ich weiß nicht, was ärgerlicher ist«, sagte ich, »Lodoghirs Ton oder der Umstand, dass er das vor mir gemerkt hat.«
Vor ein paar Stunden, als Lodoghir während der Periklyne auf mich zugetreten war und begonnen hatte, über unser Zusammentreffen auf der Bühne des Plenars zu plaudern, war ich empört gewesen. Wie konnte er sich ohne einen Trupp Inquisitoren mit Panzerwesten und Betäubungsgewehren in meine Nähe wagen? Musste er nicht voraussehen, dass ich den Rest meines Lebens der Planung gewaltsamer Rache widmen würde? Das hatte mich gezwungen zu begreifen, dass das Ganze für ihn nichts Persönliches war: All die rhetorischen Tricks, die mit glatten Lügen gewürzten Verzerrungen, die Appelle an Emotionen waren für ihn ganz genauso Bestandteile seines Instrumentariums, wie Gleichungen und Syllogismen es für mich waren, und dass ich etwas dagegen haben könnte, kam ihm ebenso wenig in den Sinn wie Jesry, wenn ich ihn auf einen Irrtum in seiner Theorik hinwies.
Ich hatte Lodoghir die ganze Zeit stumm angestarrt und die Entfernung zwischen meinen Knöcheln und seinen Zähnen abgeschätzt. Mir war so gewesen, als hätte er mich ein bisschen herumkommandiert, was das heutige Messale anging, aber ich hatte nichts davon mitbekommen. Nach einer Weile hatte er, da ich kein Wort gesagt hatte, das Interesse verloren und war davonspaziert.
»Ich weiß nicht, wie ich das durchstehen soll, mit ihm und der Inquisition!«, sagte ich.
»Du hast jetzt schon Ärger mit der Inquisition?«, fragte Arsibalt in zugleich erstauntem und anerkennendem Ton.
»Nein – aber Varax hat mich wissen lassen, dass er mich im Auge behält«, sagte ich.
»Wie um alles in der Welt hat er das denn angestellt?«
»Ich hatte früher am Tag eine wirklich ärgerliche Begegnung mit Lodoghir.«
»Ja. Das habe ich mitgekriegt.«
»Nein, ich meine, ich hatte noch eine zweite. Und rate mal, wer ein paar Sekunden später auf mich zugekommen ist?«
»Tja, in dem Kontext, in dem du die Geschichte erzählst«, sagte Arsibalt, »würde ich vermuten, dass es Varax war.«
»Ja.«
»Was hat Varax gesagt?«
»Er hat gesagt: ›Wie ich höre, bist du schon bei Kapitel fünf! Ich hoffe, es hat dir nicht den ganzen Herbst ruiniert.‹ Und ich habe ihm gesagt, dass ich ein paar Wochen dafür gebraucht hätte, ihm aber nicht die Schuld daran gebe, was vorgefallen ist.«
»Das war alles?«
»Ja. Vielleicht noch ein bisschen Geplauder hinterher.«
»Und wie interpretierst du diese Worte von Varax?«
»Er wollte damit sagen: ›Hau deinem Doyn nicht auf die Nase, junger Freund – ich behalte dich im Auge.‹«
»Du bist ein Schwachkopf.«
»Was!?«
»Du hast das völlig missverstanden! Das war ein Geschenk!«
»Ein Geschenk!?«
Arsibalt erklärte: »Ein Doyn hat die Macht, seinen Servitor zu bestrafen, indem er ihm Kapitel des Buches aufgibt. Aber du, Raz, verstockter Missetäter, der du bist, bist schon bei fünf. Lodoghir müsste dir sechs aufgeben: eine sehr schwere Strafe …«
»Gegen die ich Berufung einlegen könnte«, sagte ich, denn ich begriff plötzlich, »und zwar bei der Inquisition.«
»Arsibalt hat recht«, sagte Tris, die zugehört hatte (und mich nun, da sie wusste, dass ich schon bei fünf war, mit ganz neuen Augen zu sehen schien). »Für mich hört es sich so an, als hätte dieser Varax dir einen überdeutlichen Hinweis gegeben, dass die Inquisition jedes Urteil von Lodoghir verwerfen würde.«
»Sie könnten praktisch gar nicht anders«, sagte Arsibalt.
Ich nahm Lodoghirs Dessert und steuerte in ganz neuer Stimmung den Messallan an. Die anderen folgten mir. Wir kamen in einen Raum voller geröteter Gesichter und verkniffener Lippen: ein Körpersprachentableau von Anspannung und Betretenheit.
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