Anathem: Roman
Nervengriffe gegen den Weltenverbrenner ausrichten sollen.«
Mein Blick richtete sich auf den Stapel Phototypien. Emman schob ein paar zur Seite und produzierte eine Detailaufnahme eines abnehmbaren Aggregats, das an einem Stoßdämpfer befestigt war. Es handelte sich um ein gedrungenes graues Metallei, unmarkiert und ohne Zierelemente. Es war von einem Gittergerüst umgeben, das Vorrichtungen zum Anbau von Antennen, Feinsteuerraketen und sphärischen Tanks bot. Das Ding war eindeutig dazu gedacht, unter Eigenantrieb selbständig manövrieren zu können. Am Stoßdämpfer festgehalten wurde es von einem System von Klammern, die durch das Gitterwerk hindurch direkt an dem grauen Ei angriffen. Dieses Detail war der Konvox aufgefallen. Man hatte Berechnungen hinsichtlich der Größe der Klammern angestellt. Sie waren merkwürdig überdimensioniert. So groß mussten sie nur sein, wenn das Ding, das sie festhielten – das graue Ei – massiv war. Unglaublich
massiv. Das war kein gewöhnlicher Druckbehälter. Vielleicht hatte er extrem dicke Wände? Aber die Berechnungen ergaben keinen Sinn, wenn man von irgendeinem gewöhnlichen Metall ausging. Die schiere Anzahl von Protonen und Neutronen in dem Ding waren nur plausibel zu erklären, wenn man davon ausging, dass es aus einem Metall bestand, das so weit draußen am Ende des Periodensystems stand, dass seine Kerne – in jedem Kosmos – instabil waren. Spaltbar.
Dieses Objekt war nicht bloß ein Tank. Es war eine thermonukleare Vorrichtung, die die größte, jemals auf Arbre gebaute um mehrere Größenordnungen übertraf. Die Antriebstanks enthielten genügend Reaktionsmasse, um es in eine Umlaufbahn zu bringen, die antipodisch zu der des Mutterschiffs lag. Brächte man sie zur Detonation, würde genug strahlende Energie abgegeben, um die Hälfte von Arbre, die das Ding zu Gesicht bekam, in Brand zu setzen.
»Ich glaube nicht, dass die Thaler wirklich damit rechnen, in Raumanzügen über den Weltenbrenner auszuschwärmen und ihn mit bloßen Händen niederzukämpfen«, sagte ich. »Was mich bei ihnen eigentlich am meisten beeindruckt hat, waren ihre militärgeschichtlichen und taktischen Kenntnisse.«
Emman hob kapitulierend die Hände. »Versteh mich nicht falsch. Ich hätte sie gern auf meiner Seite.«
Erneut konnte ich nicht anders, als in dieser Äußerung eine versteckte Bedeutung wahrzunehmen. Doch dann läutete eine Glocke. Wie Tiere in einem Labor hatten wir gelernt, die Glocken auseinanderzuhalten, sodass wir nicht eigens nachsehen mussten, wofür sie standen. Arsibalt nahm einen letzten Schluck aus seiner Flasche und eilte hinaus.
Über den Lautsprecher war Moyras Stimme zu hören. »Uthentine und Erasmas waren Tausender, deshalb gelangten erst nach der Zweiten Jahrtausendkonvox Abschriften ihrer Abhandlung in die mathische Welt.« Sie sprach von den beiden Avot, die die Vorstellung des Komplexen Protismus entwickelt hatten. »Sie wurde auch damals kaum zur Kenntnis genommen, was sich erst im siebenundzwanzigsten Jahrhundert änderte, als Fraa Clathrand, ein Zentenarier – im späteren Leben Millenarier – in Saunt Edhar, einen Blick auf die Diagramme warf und sich zum Isomorphismus zwischen den Kausalitätspfeilen in diesen Netzen und dem Fluss der Zeit äußerte.«
»Isomorphismus heißt …?«, fragte Zh’vaern.
»Gleichgestaltigkeit. Die Zeit fließt in eine Richtung bzw. scheint in eine Richtung zu fließen«, sagte Paphlagon. »Ereignisse in der Vergangenheit können Ereignisse in der Gegenwart verursachen, aber nicht umgekehrt, und die Zeit verläuft niemals kreisförmig. Fraa Clathrand hat auf etwas Bemerkenswertes hingewiesen, nämlich, dass Informationen über die Knoons – die Gegebenheiten, die entlang all dieser Pfeile fließen – sich so verhalten, als ob die Knoons in der Vergangenheit lägen.«
Wieder starrte Emman ins Leere, während er im Kopf Verbindungen herstellte. »Paphlagon ist auch ein Hunderter aus Edhar, stimmt’s?«
»Ja«, sagte ich. »So ist wahrscheinlich auch sein Interesse für dieses Thema geweckt worden – wahrscheinlich hat er Clathrands Manuskripte irgendwo herumliegen sehen.«
»Siebenundzwanzigstes Jahrhundert«, wiederholte Emman. »Clathrands Werke dürften also bei der Apert von 2700 in die mathische Welt als Ganzes gelangt sein?«
Ich nickte.
»Nur acht Jahrzehnte vor der Entstehung des …« Doch er brach ab, und sein Blick huschte nervös in meine Richtung.
»Vor der Dritten Verheerung«,
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