Anathem: Roman
korrigierte ich ihn.
Im Messallan hatte Lodoghir schon mehrfach eine Erklärung verlangt. Moyra brachte ihn schließlich zum Schweigen: »Die ganze Prämisse des Protismus besteht darin, dass die Knoons uns in dem ganz buchstäblichen und physikalischen Sinne verändern können, dass sie unser Nervengewebe veranlassen, sich anders zu verhalten. Die Umkehrung gilt jedoch nicht. Nichts, was sich in unserem Nervengewebe abspielt, kann vier zu einer Primzahl machen. Clathrand hat nur gesagt, dass Dinge in unserer Vergangenheit sich ebenso auf uns in der Gegenwart auswirken können, aber nichts, was wir in der Gegenwart tun, sich auf die Ereignisse in der Vergangenheit auswirken kann. Und damit scheint es, als hätten wir hier vielleicht eine vollkommen banale Erklärung für etwas in diesen Diagrammen, das ansonsten vielleicht ein wenig mystisch anmuten würde – nämlich die Reinheit und Unveränderlichkeit der Knoons.«
Und an dieser Stelle geriet das Gespräch, genau wie von Arsibalt vorausgesagt, zu einem Tutorium über Lichtblasen, ein altes Schema, nach dem sich Theoren verdeutlichten, wie sich Wissen – und
Ursache-Wirkung-Beziehungen – im Laufe der Zeit von Ort zu Ort verbreitete.
»Na schön«, sagte Zh’vaern irgendwann, »ich konzediere die Richtigkeit von Clathrands Behauptung, dass jeder dieser GAGs – der Schreiter, der Docht und so weiter – isomorph zu einer Anordnung der Dinge im Raum-Zeit-Gefüge sein kann und dass sie einander durch die Verbreitung von Informationen mit Lichtgeschwindigkeit gegenseitig beeinflussen. Aber was bringt uns Clathrands Behauptung? Behauptet er wirklich, dass die Knoons in der Vergangenheit liegen? Dass wir uns bloß irgendwie an sie erinnern?«
»Sie wahrnehmen – nicht erinnern«, korrigierte ihn Paphlagon. »Ein Kosmograph, der einen Stern explodieren sieht, nimmt alles daran in seiner Gegenwart wahr – obwohl er vom Verstand her weiß, dass es vor Tausenden von Jahren geschehen ist und die Gegebenheiten erst jetzt das Objektiv seines Teleskops erreichen.«
»Schön – aber meine Frage hat trotzdem Bestand.«
Dass Zh’vaern sich so stark am Dialog beteiligte, war ungewöhnlich. Emman und ich bestätigten uns das, indem wir einen fragenden Blick wechselten. Vielleicht schickte sich der Matarrhit ja tatsächlich an, etwas zu sagen?
»Nach der Apert von 2700 versuchten verschiedene Theoren, verschiedene Dinge mit Clathrands Behauptung anzufangen«, sagte Moyra, »und jeder verfolgte einen anderen Ansatz, je nachdem, welches Verständnis von Zeit und welche allgemeine Auffassung von Metatheorik er hatte. Zum Beispiel …«
»Es ist zu spät am Abend für eine Aufzählung von Beispielen«, sagte Ignetha Foral.
Was den ganzen Raum zum Schweigen brachte und die Diskussion zu beenden schien, bis Zh’vaern in der darauf folgenden Stille herausplatzte: »Hat das irgendetwas mit der Dritten Verheerung zu tun?«
Das darauf folgende Schweigen war viel länger.
Dass Emman und ich, die wir hinten in der Küche standen, leise davon gesprochen hatten, war eins. Mir war das auch so schon schrecklich unangenehm gewesen. Dass jedoch Zh’vaern das Thema bei einem Messale in Anwesenheit (und unter Überwachung) von Säkularen anschnitt, ging über eine katastrophale Unhöflichkeit weit, weit hinaus. Anzudeuten, dass die Avot in irgendeiner Weise für die Dritte Verheerung verantwortlich waren – das war
lediglich eine Unhöflichkeit von Abendgesellschaft sprengendem Kaliber. Doch extrem mächtigen Säkularen solche Vorstellungen in den Kopf zu setzen war eine Leichtfertigkeit, die an Verrat grenzte.
Schließlich brach Fraa Jad das Schweigen mit einem schnaubenden Laut, der so tief war, dass das Lautsprechersystem ihn kaum übertrug. »Zh’vaern verletzt ein Tabu!«, bemerkte er.
»Ich sehe keinen Grund, warum das Thema verboten sein sollte«, sagte Zh’vaern, nicht im Mindesten verlegen.
»Wie ist es den Matarrhiten denn bei der Dritten Verheerung ergangen?«, fragte Jad.
»Laut der damaligen Ikonographie hatten wir als Deolatisten nichts mit Rhetoren oder Inkantoren zu tun und galten dementsprechend als …«
»Unschuldig an dem, dessen wir schuldig waren?«, sagte Suur Asquin, die sich diesen Augenblick ausgesucht zu haben schien, um mit den Nettigkeiten aufzuhören.
»Jedenfalls«, sagte Zh’vaern, »haben wir uns auf eine Insel tief in den Südpolarregionen zurückgezogen und von den dort vorkommenden Pflanzen, Vögeln und Insekten gelebt. Dort haben wir
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