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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Platz, der sich am Fuße des Felsens vor dem Mynster erstreckte, etwas zu essen gab.
    Auf dem Weg dorthin versuchte ich, gyroskopische Probleme für ein paar Minuten aus meinen Gedanken zu verdrängen und mich mit dem Gesamtbild zu beschäftigen. Gestern Abend hatte Ignetha Foral aus ihrer Ungeduld keinen Hehl gemacht. Vom Messale gekommen, hatten wir uns in einer Konvox wiedergefunden, die abrupt umorganisiert worden war – und zwar nach säkularen Prinzipien. Wir alle glichen jetzt Praxikern, die an kleinen Häppchen eines Problems arbeiteten, dessen Gesamtheit wir vielleicht nie zu Gesicht bekommen würden. War das eine dauerhafte Veränderung? Wie würde sie sich auf die Bewegung auswirken, von der Lio gesprochen hatte? Handelte es sich um eine bewusste Strategie, mit der diese Bewegung erstickt werden sollte? Was Lio mir erzählt hatte, hatte mir Sorgen gemacht, und ich hatte Angst davor gehabt, was ich erfahren mochte, wenn ich jemals Alas Lukub fände. Deshalb war ich erleichtert darüber gewesen, dass man ihn zeitweilig ausgesetzt hatte. Vergangene Nacht hatte die Verschwörung keine Fortschritte machen können. Doch ein Teil von mir machte sich Gedanken darüber, wie sie wohl darauf reagieren würde, dass man sie noch tiefer in den Untergrund trieb.
    Das Frühstück wurde im Freien serviert, an langen Tischen, die das Militär auf dem Platz aufgestellt hatte. Das war zwar praktisch für uns – aber vom Stil her auf sonderbare, aufdringliche Weise säkular und ein weiteres Indiz dafür, dass die mathischen Hierarchen Macht an die Zampanos verloren oder abgetreten hatten.

    Als ich mit einem Stück Brot, Butter und Honig aus der Schlange trat, sah ich eine zierliche Frau, die gerade dabei war, sich an einen ansonsten freien Tisch zu setzen. Ich ging rasch hin und setzte mich ihr gegenüber. Der Tisch war zwischen uns, sodass sich die Frage, ob wir uns umarmen, küssen oder die Hand geben sollten, erst gar nicht stellte. Sie wusste, dass ich da war, verharrte aber eine ganze Weile über ihren Teller gebeugt, starrte auf ihr Essen und sammelte, wie ich dachte, Kraft, ehe sie den Blick hob und mir in die Augen schaute.
    »Ist der Platz hier frei?«, fragte im Nähertreten ein Fraa in komplizierter Kulle und bedachte mich dabei mit einem schmeichlerischen Blick, wie ich ihn inzwischen mit denen assoziierte, die sich bei Edhariern einschleimen wollten.
    »Zieh Leine!«, sagte ich. Das tat er.
    »Ich habe dir ein paar Briefe geschickt«, sagte ich. »Weiß nicht, ob du sie gekriegt hast.«
    »Osa hat mir einen gegeben«, sagte sie. »Geöffnet habe ich ihn erst nach dem, was mit Orolo passiert ist.«
    »Warum?«, fragte ich, um einen sanften Ton bemüht. »Das mit Jesry weiß ich …«
    Die großen Augen schlossen sich vor Schmerz – nein – vor Verärgerung, und sie schüttelte den Kopf. »Lass gut sein. Es ist einfach zu viel anderes passiert. Ich wollte mich nicht ablenken lassen.« Sie lehnte sich auf ihrem Klappstuhl zurück, stieß einen Seufzer aus. »Nach der Heimsuchung von Orithena dachte ich, ich sollte mal lieber loslegen. Gas geben, wie die Extras sagen. Ich habe deinen Brief gelesen. Ich glaube …« Ihre Stirn runzelte sich. »Ich weiß nicht, was ich glaube. Es ist, als hätte ich drei verschiedene Leben. Vor der Voko. Zwischen der Voko und Orolos Tod. Und seither. Und dein Brief – der ein respektables Stück Arbeit war, nicht dass wir uns da falsch verstehen – war an eine Ala gerichtet, die es schon seit zwei Leben nicht mehr gibt.«
    »Ich glaube, wir alle könnten ähnliche Geschichten erzählen«, meinte ich.
    Sie zuckte die Achseln, nickte, fing an zu essen.
    »Na schön«, versuchte ich es, »dann erzähl mir von deinem jetzigen Leben.«
    Sie sah mich ungemütlich lange an. »Lio hat mir gesagt, dass ihr miteinander geredet habt.«

    »Ja.«
    Endlich unterbrach sie den Augenkontakt und ließ den Blick über die Frühstückstische, die sich langsam mit müden Fraas und Suurs füllten, und über die Rasenflächen und Türme von Tredegarh schweifen. »Sie haben mich hierhergeholt, damit ich Leute organisiere. Und das tue ich.«
    »Aber nicht so, wie sie wollen?«
    Sie schüttelte rasch den Kopf. »Es ist komplizierter, Erasmas.« Sie meinen Namen sagen zu hören brachte mich fast um. »Sobald man eine Organisation ins Leben ruft, entfaltet sie, wie sich herausgestellt hat, ein Eigenleben – lebt nach ihrer eigenen Logik. Wenn ich so etwas schon einmal gemacht hätte, hätte ich vermutlich

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