Anathem: Roman
zuhalten sollte,
hatte es offenbar respektable Arbeit geleistet. Aber es hatte keine Augen und kein Gehirn, mit denen es den Ballon selbständig ansteuern konnte. Und solange die Geometer weiter unsere Navigationssatelliten störten, konnte es mich nur bis hierher bringen. Ab jetzt würden meine Augen als Sensoren und mein Gehirn als Lenkungssystem dienen müssen. Ich drehte die Rollkugel ganz leicht, nur um mich davon zu überzeugen, dass das System funktionierte, und die Feinsteuerraketen spien blaues Licht und drehten mich in eine neue Lage. Ich orientierte mich, winkelte Arbres Horizont unter mir ein, ermittelte, wo Südosten war (die Richtung meines Orbitalflugs), stellte im Kopf eine Berechnung an, dachte zur Sicherheit noch einmal darüber nach und drückte den Steuerknüppel kurz in zwei Richtungen. Das Mannjifiek verpasste mir einen Doppelschlag. Abgesehen davon passierte nichts Schreckliches, und weil mir gefiel, wie der Ballon in meinem Blickfeld sich nun verhielt, war ich versucht, den Vorgang zu wiederholen. Aber ich besann mich eines Besseren. Genau so waren wir in dem Videospiel häufig in Schwierigkeiten geraten: indem wir des Guten zu viel taten.
Ich hatte einen Fernbereichs-Sender-Empfänger, nur für Notfälle. Ich ließ ihn abgeschaltet. Als der Ballon so nahe war, dass das Nahbereichssystem funktionierte, sagte ich: »Retikel suchen«, und einige Augenblicke später erwiderte der Anzug: »Mit Netzwerk verbunden«, übertönt von Sammanns Stimme: »Na, wie war die Fahrt?«
»Ich will mein Geld zurück«, sagte ich und unterdrückte das Gefühl wilder Freude, das mich überkam, als ich seine – überhaupt eine - Stimme hörte. Ich senkte den Blick auf eine Anzeige unterhalb meines Helmvisiers (in Wirklichkeit wurde sie lediglich auf eine Weise in meine Augen projiziert, dass es so aussah) und sah Ikons für mich, Sammann und Fraa Gratho. Aber während ich noch daraufschaute, wurden Esmas Gesicht und dann das von Jules angefügt. Ich blickte mich um und sah zwei weitere Mannjifieks auf uns zukommen. Sie flogen in unwahrscheinlich enger Formation. Tatsächlich hatte eines von ihnen – Esma – das andere im Schlepptau . »Ich habe Jules auf den Haken genommen. Er war am Abdriften«, sagte Esma. Zum Glück hatte ich mich inzwischen daran gewöhnt, dass die Thaler gern bescheiden untertrieben. Ich hatte es gerade erst allein hierhergeschafft. In derselben Zeit hatte Esma
jemand anderen aufgespürt, sich an ihn heranmanövriert, um ihn einzufangen, und ihn nach Hause gebracht.
»Jules? Was ist los? Alles in Ordnung? Gilt so was auf Laterre als besonders witzig?«, fragte Sammann.
»Ich habe ihn aus dem Retikel geworfen«, sagte Esma. »Er hat zusammenhanglos von Käse gesprochen.«
»Zwanzig Minuten bis Sichtverbindung«, sagte eine automatisierte Stimme – gemeint war der Zeitpunkt, zu dem man uns von der Daban Urnud aus würde sehen können. Der Ballon stand inzwischen riesig in meinem Blickfeld, und auf einer Seite davon konnte ich Sammann in seinem Mannjifiek und fünfzig Fuß weiter Gratho in seinem schweben sehen. Beide sahen seltsam bunt und flauschig aus, wie Kinderspielzeuge. Die Mannjifieks und die anderen, nichtmenschlichen Nutzlasten, die man gleichzeitig hinaufgeschickt hatte, waren von widerspenstigen Wolken aus Kunstfasernetzwerk umgeben, das man für den Flug in dicht verschlossene Kapseln gezwängt hatte. Doch sie hatten sich entfaltet, sobald wir unsere Umlaufbahn erreicht hatten, und sich auf das Zehnfache ihres vorherigen Umfangs ausgedehnt. Wir sahen aus wie dahintreibende rote Bommel.
»Habt ihr den Sternencheck schon durchgeführt?«, fragte ich.
»Ja«, sagte Gratho, »aber du darfst unsere Ergebnisse gern verifizieren.«
Mithilfe der Rollkugel schob ich mich vorsichtig herum, bis ich die in etwa kreisförmige Konstellation sah, die den Hoplitenschild umriss, und verglich ihre Position mit der von Arbre und der des Ballons. Es handelte sich um eine einfache Methode, mit der wir sicherstellten, dass der Ballon sich zwischen uns und den Geometern befinden würde, wenn wir auf unserer Umlaufbahn an den Punkt gelangten, an dem wir von Teleskopen auf der Daban Urnud erfasst werden konnten.
Mittlerweile mussten die Geometer gemerkt haben, dass etwas Großes im Gange war. Allerdings hatten wir es zeitlich so abgestimmt, dass Arbre ihnen die Sicht auf den Start der zweihundert Raketen verstellt hatte. Das würde sich bald ändern. Unsere Umlaufbahn war fast vollkommen
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