Anathem: Roman
kreisförmig – ihre Exzentrizität, das Maß ihrer Abweichung von der runden Gestalt, betrug nur 0,001 -, und sie verlief knapp oberhalb der Atmosphäre in einer Höhe von hundert Meilen. Sie führte uns in anderthalb Stunden einmal um
Arbre herum. Die Umlaufbahn der Daban Urnud war elliptischer, und ihre Höhe bewegte sich zwischen vierzehn- und fünfundzwanzig tausend Meilen. Für einen vollen Umlauf brauchte sie zehnmal so lang – ungefähr fünfzehn Stunden. Man stelle sich zwei Läufer vor, die um einen Teich herumlaufen, wobei sich einer so nahe am Ufer hält, dass er nasse Füße bekommt, und der andere einen Abstand von einer halben Meile einhält. Auf jeder Runde, die der auf der Außenbahn Laufende zurücklegte, würde der auf der Innenbahn ihn zehnmal überrunden. Jedes Mal, wenn wir die Daban Urnud überrundeten, konnten sie nach unten schauen und uns vor dem Hintergrund von Arbre sehen. Bald allerdings würden wir hinter dem Planeten verschwinden und dann etwa fünfundvierzig Minuten bis eine Stunde lang nicht zu sehen sein. Wir waren während eines solchen Intervalls der Unsichtbarkeit gestartet; inzwischen war es zur Hälfte vorbei.
Warum waren wir nicht einfach auf eine höhere Umlaufbahn eingeschwenkt? Weil unser zusammengeschustertes Startsystem nicht in der Lage war, einer Nutzlast so viel Energie zu verabreichen.
In wenigen Minuten, wenn die Daban Urnud Sichtverbindung zu der Wolke von Zeug bekam, die von jenen zweihundert Raketen gerade in den Raum geschleudert worden war, würde man dort ein paar Dutzend Ballons in einem Nebel von Radargeräte störenden, metallbeschichteten Polystreifen sehen, der einen Durchmesser von mehreren hundert Meilen hatte und sich mit dem Auseinanderstreben der Umlaufbahnen rasch ausdehnte. Die Streifen würden jede Langwellenüberwachung (Radar) nutzlos machen. Man würde uns in kürzeren Wellenlängen (Licht) anschauen müssen, was zwangsläufig die Betrachtung einer großen Menge von Phototypien mit sich brächte, auf denen man nach allem suchen musste, was kein Ballon oder metallbeschichteter Streifen war. Wenn wir es richtig anfingen, würden sie selbst dann, wenn es ihnen gelänge, alle diese Bilder zu sammeln und sie innerhalb einer vernünftigen Zeitspanne auszuwerten, noch immer nichts sehen – weil wir uns mit unserem ganzen Kram hinter einem der Ballons verstecken würden.
Das aber bedeutete, dass in den nächsten zwanzig Minuten viel geschehen musste. Ich bekam so viel zu tun, dass ich beinahe Jesrys ersten Rat vergaß: auf keinen Fall das Speigatt verfehlen. Das erste Würgen in meiner Kehle weckte jedoch meine Aufmerksamkeit, und ich konnte gerade noch rechtzeitig den Kopf vorschieben und
auf die Gummiöffnung beißen. Mein Frühstück wurde abgesaugt und irgendwo in einem Abfallbeutel gefriergetrocknet. Ich wandte mich wieder der vorliegenden Aufgabe zu. Zum Glück – und etwas überraschenderweise – kam die Große Pille nicht hoch. Sie musste immer noch irgendwo in meinen Eingeweiden sitzen und Temperaturangaben und andere biomedizinische Daten an die Prozessoren des Anzugs schicken.
Danach ging es mir jedenfalls besser, und ich übergab mich fast zehn Sekunden lang nicht mehr.
Sammann hatte sich dadurch, dass er als Erster eingetroffen war, selbst zum Abgreifer ernannt, was bedeutete, dass seine Aufgabe darin bestand, unter dem Ballon Position zu halten und die ankommenden Nutzlasten so zu sichern, dass sie eine einzige, aufs Geratewohl miteinander verbundene Masse bildeten. Nutzlast Nummer eins war Jules Verne Durand. Esma schleppte ihn heran und betätigte die Bremsen. Ihr Mannjifiek hielt an, doch Jules schob sich weiter, wie ein Anhänger, der sich auf einer vereisten Straße quer stellt. Sie musste noch einmal Rückwärtsschub geben, während das Gerät des Laterraners sie vorwärtszuzerren versuchte. Während Gratho wachsam nahebei schwebte und sich fragte, ob es sich um einen Notfall handelte, manövrierte Sammann sich näher heran und drehte sich in Position. Ein langer schlanker Greifarm schoss aus seinem Mannjifiek, überbrückte in einem Wimpernschlag zwanzig Fuß Raum und schob sich in den roten Wust, der Jules’ Gerät umgab. »Hab ihn!« Jules hing nun zwischen ihm und Esma. »Kannst dich ruhig losmachen.«
»Hänge mich ab«, meldete Esma. »Ich versuche, noch weitere Lasten zu finden.« Ihre Düsen flammten auf, und der Greifarm, der sie mit dem Netz um Jules verband, kam frei.
So begann Sammann seine Arbeit als
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