Anathem: Roman
mehr seiner Masse in Form von verbrauchten Treibstoffen hinter sich gelassen hatte. Derselbe Schub würde dann, gegen eine stark reduzierte Last wirkend, eine Beschleunigung ergeben, die Lio fröhlich als »fast tödlich« bezeichnet hatte. »Aber das ist in Ordnung«, hatte er gesagt, »ihr werdet ohnmächtig werden, bevor euch etwas wirklich Schlimmes passiert.«
Ich versuchte, mich umzublicken. In den letzten drei Tagen hatte ich mir ausgemalt, dass die Aussicht phantastisch sein würde. Begeisternd. Ich würde imstande sein, die anderen Raketen aufsteigen zu sehen: zweihundert Stück, die alle auf ungefähr parallelem Kurs im Bogen nach oben und Osten schossen. Aber das Innere des Anzugs enthielt mehr Luftbeutel, als Jesry zu erkennen gegeben hatte, und alle waren sie auf Maximaldruck aufgeblasen (will sagen, ich lag auf einem Bett aus Steinen) und hielten meinen Kopf und meinen Oberkörper in der Haltung fest, bei der man die Wahrscheinlichkeit, dass sie Tod, Lähmung oder Organversagen zur Folge hatte, am geringsten einschätzte. Meine Milz konnte beruhigt schlafen. Meine Augen konnten nichts als ein Sternenfeld und unten rechts ein Stück von Arbres schimmernder blauer Atmosphäre sehen. Beides verschwamm, während mir Wasser in die Augen trat und die Augäpfel selbst von ihrem eigenen Gewicht plattgequetscht wurden, wie wenn sich Arsibalt auf eine Wasserblase setzte …
Ich fiel. Ich hatte einen Kater. Ich war nicht tot. Mein Anzug redete mit mir, und das schon eine ganze Weile. »Gib den Befehl ›Rückhaltesystem drucklos machen‹, um die Luft aus dem Rückhaltesystem abzulassen und das nächste Stadium der Operation zu beginnen«, schlug eine Stimme auf Orth immer wieder vor: irgendeine Suur mit guter Aussprache, die man dazu vergattert hatte, Mitteilungen in ein Aufnahmegerät zu sprechen. Ich hatte Lust, sie kennenzulernen.
»Rüssem drassen«, sagte ich in der festen Überzeugung, sie damit zu beeindrucken.
Der Anzug holte Luft und sagte dann: »Gib den Befehl ›Rückhaltesystem drucklos machen‹, um …«
»Rückistem drussachen!«, insistierte ich. Sie begann mir auf die Nerven zu gehen. Vielleicht wollte ich sie doch nicht kennenlernen.
»Gib den Befehl ›Rückhalte…‹«
»Rück-hall-te-süss-tem druck-los-ma-chänn.«
Die Luft entwich aus den Beuteln. »Willkommen im arbrenahen Raum!«, sagte die Stimme in ganz anderem Ton.
Mein Kopf und mein Oberkörper konnten sich nun frei in der KTE bewegen, aber meine Arme und Beine wurden noch immer von Klebeband und Isolierschaum festgehalten. Ich machte mich mit dem Teppichmesser an die Arbeit. Zunächst kam ich nur langsam voran, doch bald flogen Schaumbrocken und Klebebandknäuel aus dem Mannjifiek und trieben davon, ohne meine weitere Umgebung zu verlassen. Irgendwann würden sie wegen ihrer niedrigen Masse und ihres hohen Widerstands wieder in die Atmosphäre eintreten und verglühen. Bis dahin würden sie ein großes visuelles Durcheinander bilden, um bei den Geometern Verwirrung zu stiften.
Apropos Durcheinander, ich begann, um mich herum gleißende Lichtflecken zu sehen. Davon gab es zwei Arten: Millionen winziger Funken (Stanniolstreifen, die mit anderen Raketen heraufgeschickt worden waren) und Dutzende von großen, stetigen Leuchtfeuern. Letztere waren teilweise so nahe, dass meine Augäpfel – die allmählich ihre frühere Form zurückgewannen – sie als Scheiben oder Monde auflösen konnten. Je nachdem, wo sie, ich und die Sonne uns befanden, sahen einige wie volle, andere wie neue Monde und wieder andere wie irgendwas dazwischen aus.
Rechts von mir befand sich ein Halbmond, der stetig größer wurde, während meine und seine Flugbahn sich einander annäherten. Es handelte sich um einen metallbeschichteten Polyballon von fünfhundert Fuß Durchmesser, der mit derselben Raketensalve wie ich hochgeschickt worden war. Indem ich seine Größe mit dem Messkreuz auf meinem Helmvisier abglich, konnte ich die Entfernung abschätzen: etwa zwei Meilen. Das musste derjenige sein, den ich ansteuern sollte.
Nach kurzem Herumtasten in den Ärmelstümpfen legte ich die linke Hand auf die Rollkugel und die rechte auf den Knüppel. Sie waren funktionslos, bis ich ein weiteres Stimmkommando gab und es durch Umlegen eines Schalters bestätigte. Das brachte die Feinsteuerraketen unter meine Kontrolle. Bis jetzt hatte das eingebaute Lenkungssystem sie bedient. Und vorausgesetzt, dass der Ballon in meiner Nähe derjenige war, auf den ich
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