Anathem: Roman
dem Ballon verdeckt«, sagte Sammann.
»Gut«, sagte Lio. »Bestimmt möchten alle Fraa Erasmas gratulieren, aber lasst es bitte sein. Spart Sauerstoff. Macht es später. Arsibalt, du weißt, was als Nächstes kommt – sag Bescheid, wenn du von jemand anderem Sauerstoff borgen musst.«
Die anderen hatten weiße Überanzüge aus derbem Stoff angelegt, um Kleinstmeteoriten abzuhalten und um die Sonnenhitze zu reflektieren. Sie sahen darin eher wie echte Astronauten aus. Auch ich bekam einen und zog ihn an. Dann klinkte ich mich wie die anderen an das riesige Gewirr aus Netzen, Nutzlasten und Greifarmen an und versuchte zu schlafen, während Arsibalt und Lio die Versorgungseinheit in Betrieb nahmen. Das bedeutete, sie und den Reaktor dicht aneinander zu manövrieren und sie dann miteinander zu verbinden. Bereits mit der Versorgungseinheit verbunden war ein flexibler Wassertank. Während meiner Abwesenheit waren andere Zellenmitglieder damit beschäftigt gewesen, die Reservoire der blauen Nutzlasten zu plündern und das Wasser in diesen Tank zu transferieren, bis er auf Badewannengröße angeschwollen war.
Arsibalt klinkte sich an das Steuerpult des Reaktors an und brachte viel Zeit reglos zu, was vermutlich bedeutete, dass er die Bedienungsanleitung auf dem virtuellen Schirm in seinem Helmvisier las und Checklisten durchging. Nach einer Weile machte er sich an den Aufbau einiger langer Stangen, die schließlich wie Stacheln aus einer Seite des Reaktors ragten. Etwas unterhalb ihrer Enden entsprossen ihnen eine Art Blütenblätter, sodass wir nicht sehen konnten, was sich an den Spitzen dieser Stangen befand. Arsibalt kehrte ans Steuerpult zurück, betätigte sich einige Momente lang und teilte uns dann mit: »Ich habe den Reaktor hochgefahren. Kommt nicht an die Enden der Stangen. Sie sind heiß.«
»Heiß im Sinne von radioaktiv?«, fragte Jesry.
»Nein. Heiß im Sinne von aua. Dort strahlt das System seine Abwärme in den Raum ab.« Dann, nach kurzem Schweigen: »Aber radioaktiv sind sie auch.«
Niemand sagte etwas, aber ich war bestimmt nicht der Einzige, der seinen Sauerstoffvorrat überprüfte. Das Wasser wurde nun in Wasserstoff und Sauerstoff aufgespalten. In wenigen Stunden würden wir in der Lage sein, unsere verbrauchten Luft- und Treibstoffvorräte zu ergänzen und verbrauchte gegen frische Kohlendioxidreiniger auszutauschen. Bis dahin mussten wir es ruhig angehen lassen und das, was wir hatten, mit anderen teilen, die es dringender brauchten. Esma zum Beispiel war dafür zuständig gewesen, Wasser von Nutzlasten heranzuschaffen, und hatte viel von ihrem Sauerstoff verbraucht.
Lio sagte: »Alle bis auf Sammann und Gratho trinken, essen und schlafen. Wenn ihr partout nicht schlafen könnt, geht noch einmal künftige Aufgaben durch. Sammann und Gratho, verbindet uns.«
Sammann und Gratho kraxelten aus ihren Mannjifieks und gingen dazu über, um das Nutzlastengewirr herumzukrabbeln. Sie fanden eine Art Zauberkasten, lösten ihn aus dem Durcheinander und fixierten ihn in einer Position, von der aus eine freie Sichtverbindung auf Arbre hinunter bestand. Ein paar Minuten später verkündete Sammann, wir seien im Retikulum. Allerdings hatte ich das aufgrund neuer Lämpchen und Nicknack-Displays, die in meinem peripheren Blickfeld erschienen waren, bereits vermutet.
»Hallo, Fraa Erasmas, hier ist Zelle 87«, sagte eine Stimme in meinen Ohren. »Hörst du mich?«
»Ja, Tulia, ich höre dich ausgezeichnet. Guten Morgen, oder was immer es dort ist, wo du bist.«
»Abend«, sagte sie. »Wir sind im Geräteschuppen eines Bauernhofs ungefähr tausend Meilen südwestlich von Tredegarh. Warum habt ihr so lange gebraucht?«
»Wir haben die Aussicht genossen und eine Party gefeiert«, sagte ich. »Und wie habt ihr euch die Zeit vertrieben? Was genau macht Zelle 87 in diesem Geräteschuppen?«
»Alles, was euch die Arbeit erleichtert.«
»Tulia, so hilfsbereit und entgegenkommend kenne ich dich ja gar nicht …«
»Sieht so aus, als müsstest du urinieren. Warum dauert das so lange?«
»Ich lege gleich los.«
»Irgendein spezieller Grund, warum dein Puls so schnell ist?«
»Nein, keine Ahnung, mal überlegen …«
»Verschone mich damit«, sagte sie. »Hier ist ein Bild von dem Schlamassel, in dem du steckst – sieh es dir an, während du pinkelst.« Und mit einem Mal zeigte mein Bildschirm eine dreidimensionale Wiedergabe einer großen Silberkugel, an deren eine Seite sich ein Durcheinander aus Streben,
Weitere Kostenlose Bücher