Anathem: Roman
beschlich mich der Verdacht, dass sie nicht so sehr der Erholung unserer Körper als vielmehr der Erholung unserer Seelen von dem verwirrenden, überwältigenden, irritierenden Informationshagel diente, mit dem unsere Ohren und Augen eingedeckt wurden.
Wenn ich einen Moment Ruhe und Frieden bekam, hatte ich seltsamerweise nur das Bedürfnis, mit jemandem zu reden. Auf ganz normale Weise. »Tulia? Bist du da?«
»Ich bin entsetzt, dass du noch nicht eingeschlafen bist!«, scherzte sie. »Du bist im Verzug – hau dich aufs Ohr und entspann dich!«
Ich lachte nicht.
»Tut mir leid«, sagte sie, »was ist los?«
»Nichts. Ich denke bloß nach, das ist alles.«
»Oha.«
»Sind wir von allen Bewohnern Arbres die richtigen Leute für diese Aufgabe?«
»Äh, diese Entscheidung ist getroffen worden, und die Antwort lautet ja.«
»Aber wie ist sie zustande gekommen? Moment mal, ich weiß: Ala hat sie in irgendeinem Ausschuss durchgedrückt.«
»Vielleicht war das nicht so sehr ein Durchdrücken«, sagte Tulia, und ich musste über den Widerwillen in ihrer Stimme lächeln. »Aber du hast recht damit, dass Ala viel damit zu tun hatte.«
»Schön. Also kein Durchdrücken. Aber ich wette, es war auch nicht durchweg zuckersüße Überredung. Nicht durchweg rationaler Dialog. Nicht bei diesen Leuten.«
»Du würdest dich wundern, wie weit man bei Militärs in Kriegszeiten mit rationalem Dialog kommt.«
»Aber das Militär hat doch bestimmt gesagt: ›Hör zu, das ist ganz offensichtlich ein Job für unsere Leute. Spezialeinheiten. Nicht für einen Haufen Avot, einen abtrünnigen Ita und einen halb verhungerten Außerarbrischen.‹«
»Es gab – gibt – ein Reserveteam«, räumte Tulia ein. »Ich glaube, das sind alles Militärs. Die gleiche Ausbildung wie ihr.«
»Wie ist dann die Entscheidung zustande gekommen, uns die Anzüge zu geben, die Mannjifieks …«
»Zum Teil lag das an einem Sprachproblem. Jules Verne Durand
ist ein unbezahlbar wichtiger Faktor. Er spricht Orth. Kein Fluckisch. Das Team hätte also mindestens teilweise orthsprachig sein müssen. Aber ein zweisprachiges Team zu bilden hätte alle möglichen Probleme aufgeworfen.«
»Hmm, also waren wahrscheinlich wir die Reserveoption, bis uns Jules in den Schoß fiel.«
»Er ist euch nicht in den Schoß gefallen«, erinnerte mich Tulia, »sondern du bist losgegangen und …«
»Wie dem auch sei, ich finde es trotzdem erstaunlich, dass die Zampanos die Idee auch nur in Erwägung gezogen haben, wo sie doch Spezialeinheiten und Astronauten haben, die so etwas aus dem Effeff können.«
»Aber Raz, du bist lernfähig, du kannst ›so etwas‹ lernen, wenn du damit meinst, wie man ein S2-35B steuert und einen Kalten Schwarzen Spiegel zusammenbaut. Seit du zugelassen worden bist, hast du dein ganzes Leben damit zugebracht, lernfähig zu werden.«
»Da hast du vielleicht nicht ganz unrecht«, sagte ich und dachte dabei an den bislang unvorstellbaren Anblick, wie Fraa Arsibalt einen Atomreaktor hochfuhr.
»Aber das entscheidende Argument – und ich kann mir sehr gut vorstellen, wie Ala es angebracht hätte – ist, dass die ganze Mission, die Reise, die ihr unternehmt, ja nicht nur aus dem besteht, was ihr gerade tut. Wenn ihr euren Bestimmungsort erreicht habt, wer weiß, was dann von euch verlangt wird? Und dann wirst du auf alles zurückgreifen müssen, was du weißt – auf jede Fähigkeit, die du jemals erworben hat, seit du ein Fid geworden bist.«
»Seit ich ein Fid geworden bin … es kommt mir vor, als wäre das eine Ewigkeit her!«
»Ja«, sagte sie, »ich habe neulich erst daran gedacht. Wie ich durch dieses Labyrinth gefunden habe. Wie ich in die Sonne hinausgetreten bin. Wie Großsuur Tamura mich bei der Hand genommen und mir eine Schale Suppe gemacht hat. Und ich erinnere mich noch, wie du zugelassen worden bist.«
»Du hast mir alles gezeigt«, entsann ich mich, »als hättest du dort schon hundert Jahre gelebt. Ich dachte, du wärst eine Tausenderin.«
Ich hörte ein Schniefen am anderen Ende und schloss eine Zeitlang die Augen. Der Anzug war so konstruiert, dass er mit so gut wie jeder exkretorischen Funktion zurechtkam, außer mit dem Weinen.
Wie hatte ich jemals so dämlich sein können, mir einzubilden, ich könnte eine Liaison mit Tulia eingehen? Das wäre nun wirklich eine Katastrophe geworden.
»Hast du eigentlich mal mit Ala geredet? Stehst du mit ihr in Verbindung?«, fragte ich.
»Wahrscheinlich könnte ich Verbindung mit
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