Anathem: Roman
kaum noch wahrnahmen. Von jetzt an würden wir uns während jedes Umlaufs genau einmal drehen, was bedeutete, dass sich das Gegengewicht stets fünf Meilen »unter« uns befand, die Schnur vertikal ausgerichtet war und der Kalte Schwarze Spiegel stets »über« uns lag – wo wir ihn haben wollten. Diese langsame Rotation ergab eine Pseudoschwerkraft von etwa einem Hundertstel dessen, was wir auf der Oberfläche von Arbre verspürten, sodass wir und unser ganzer Kram langsam nach oben »fielen« – weg vom Planeten -, es sei denn, irgendetwas hielte uns auf. Dieses Etwas war der Rahmen aus aufgeblasenen Rohrstreben, der den Kalten Schwarzen Spiegel straff ausgespannt hielt. Wir trieben dagegen und blieben daran haften wie Abfall, der von einer nicht wahrnehmbaren Brise gegen einen Zaun gedrückt wird.
Kurz nach Abschluss dieses Manövers gelangten wir auf die Nachtseite von Arbre. Das verhalf uns zu einem ausgezeichneten Blick, als der Sockel sämtliche großen Raketenstartgelände an Arbres Äquator stangte. Der Planet war weitgehend schwarz, mit Lichtsträngen und -klumpen, die sich über die gemäßigten Teile der Landmassen ausbreiteten, wo Menschen in aller Regel lebten. Die anfliegenden Stangen zogen hell leuchtende Striche über diesen Hintergrund, als würden sich uralte, unter der Kruste von Arbre gefangene Götter mit Schneidbrennern den Weg in die Freiheit bahnen. Wenn eine Stange den Boden traf, wurde ihr Licht einen Moment lang ausgelöscht, um dann als halbkugelförmige Blüte von wärmerem, hellerem Licht wiederzuerstehen: vergleichbar mit einer Atomexplosion, jedoch ohne die Radioaktivität. Unsere Umlaufbahn führte über das Startgelände, von dem aus Jesry seine erste Reise ins All angetreten hatte, und wir hatten einen erstklassigen Blick auf die orangerote Faust, die sich gegen uns reckte. Jesry machte sich zu dem Zeitpunkt gerade an der Versorgungseinheit zu schaffen, aber er hielt eine Zeitlang in seinen Arbeiten inne, um zuzusehen, während wir darüber hinwegflogen.
Ich hörte ein leises mechanisches Plopp und sah, als ich zu Arsibalt hinüberschaute, dass er soeben ein festes Kabel in die Vorderseite meines Anzugs eingestöpselt hatte. So würden wir von jetzt
an miteinander sprechen. Sogar der Nahbereichsfunk galt als zu großes Risiko. Stattdessen verbanden wir uns physisch, von Anzug zu Anzug, durch Kabel miteinander. Und statt der Verbindung hoher Bandbreite zum Boden stellte Sammann eine her, die – langsam und sporadisch – Informationen über einen schmalen Sichtlinienstrahl übermittelte, den die Geometer nicht würden entdecken können. Wenn Zelle 87 mir danach also etwas mitzuteilen hatte, würde man das in Form von Textnachrichten tun, die auf dem virtuellen Bildschirm in meinem Helmvisier auftauchen würden – aber nicht sofort. Man hatte uns gesagt, dass wir mit Verzögerungen von bis zu zwei Stunden rechnen mussten. Und wenn wir uns nicht über Kabel ins Retikel einklinkten, würden wir nicht in der Lage sein, irgendetwas zu senden oder zu empfangen.
»Das Ganze ist ein Drahtseilakt«, bemerkte Arsibalt. Aus Gewohnheit schaute ich auf sein Helmvisier, sah dort aber nichts als das verzerrte Spiegelbild einer pilzförmigen Wolke. Also senkte ich den Blick auf den an seine Brust montierten Bildschirm und sah sein Gesicht, das auf Arbre hinunterstarrte und dann aufschaute, um so etwas wie Blickkontakt zu mir herzustellen.
Ich sammelte mich einen Moment lang. Das war das erste richtige – das heißt private – Gespräch, das ich seit Tagen führte. Seit ich die Große Pille hinuntergewürgt hatte und in den Anzug gestiegen war, hatte man jedes Geräusch, das ich gemacht hatte, jeden Schlag meines Herzens, jeden Schluck Wasser, den ich zu mir genommen hatte, in Echtzeit aufgenommen und irgendwohin übertragen. Ich hatte mir angewöhnt, davon auszugehen, dass jedes Wort, das ich sagte, von Zampanos überwacht, in Ausschüssen diskutiert und für alle Ewigkeit archiviert wurde. Damit bestand kaum eine Möglichkeit, ein ehrliches oder interessantes Gespräch zu führen. Aber ich hatte mich sehr rasch daran gewöhnt, die Stimme von Zelle 87 nicht mehr im Ohr zu haben. Und jetzt hatten Arsibalt und ich Gelegenheit, miteinander zu reden. Niemand sonst war per Kabel an uns angeschlossen. Wir waren so allein miteinander, als würden wir in Edhar zwischen den Seitenbäumen umherschlendern.
Drahtseil war ein Wortspiel: eine genaue Beschreibung des Halteseils, das wir gerade
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