Anathem: Roman
überhaupt keine Kletterpartie, weil wir gewichtslos waren. Ohne eigens darüber sprechen zu müssen, steuerten wir die »höchste« und größte der Kuppeln an, die, wie Jules versprochen hatte, offen stand. Es handelte sich um ein sphärisches, in zwei Hemisphären geteiltes Dach, das auf Schienen auseinandergefahren war, sodass ein aus vielen Segmenten bestehender Spiegel mit einem Durchmesser von etwa dreißig Fuß zu sehen war. Wir alle kraxelten durch die Lücke zwischen den Hemisphären, die so groß war, dass man ein Einfamilienhaus hätte hindurchwerfen können, und hangelten uns auf die Ebene der Träger und kardanischen Ringe »hinunter«, auf denen der Spiegel ruhte – wir folgten dabei, glaube ich, so etwas wie einem Instinkt, in einem geschlossenen Raum Unterschlupf zu suchen, der schrecklichen Schutzlosigkeit zu entkommen, mit der wir so lange gelebt hatten. Jules deutete auf eine Luke, die uns Zugang zu den unter Druck stehenden Teilen des Vertex verschaffen würde, sobald die Kuppel geschlossen und mit Luft gefüllt worden war. Es gab sogar einen richtig großen roten Panikknopf, den wir drücken konnten, um die Kuppel notfallmäßig unter Luftdruck zu setzen. Aber Jules riet uns davon ab, da das überall in der Daban Urnud Alarm auslösen würde. Stattdessen zog er sich an den Streben hoch, die das Objektiv des Teleskops im Brennpunkt des Spiegels festhielten. Er schälte die reflektierende Decke von der Brust seines Anzugs ab und stopfte sie dazwischen, dann kletterte er wieder »hinunter« zu uns. Wir anderen versuchten unterdessen, Ruhe zu bewahren und unsere Atmung zu kontrollieren. Arsibalt, der mehr Sauerstoff als alle anderen verbrauchte, blieben nur noch zehn Minuten. Sammann hatte fünfundzwanzig; die beiden tauschten ihre Sauerstofftanks. Ich hatte noch achtzehn. Lio schlug vor, dass wir alle so viel wie möglich essen sollten; falls wir von unseren Anzügen getrennt würden, hätten wir nichts mehr zu essen bis auf ein paar Energieriegel, die wir mit uns führen konnten. Also saugte ich weiteren Brei aus der Tülle und musste mich geraume Zeit gewaltig anstrengen, um nicht gleich alles wieder ins Speigatt zu spucken.
»Hallo!«, rief Jules, mehr als Ausruf denn als Gruß. Wir brauchten einen Augenblick, um zu begreifen, dass er auf ein Gesicht reagierte, das im Bullauge der Luke aufgetaucht war: irgendeine Kosmographin, die nachsehen kam, warum das große Teleskop dunkel geworden war. Ausgehend von Jules’ Lektionen vermutete ich aufgrund ihrer Augenfarbe und der Form ihrer Nasenlöcher, dass es sich um eine Fthosierin handelte. Und obwohl es einige Zeit dauern würde, Gesichtsausdrücke der Fthosier deuten zu lernen, hatte ich nun wohl zwei gesehen: Verwirrung gefolgt von Entsetzen, da in ihrem Fenster ein mattschwarzer Raumanzug unbekannter Machart aufgetaucht war. Jules packte die Handgriffe, die die Luke flankierten, und drückte sein Helmvisier gegen das Glas. Dann mussten wir alle die Lautstärke unserer Kopfhörer herunterdrehen, während er auf, wie ich annahm, Fthosisch loszubrüllen begann. Die Frau hinter der Luke begriff und drückte das Ohr gegen das Fenster. Klang würde sich im Vakuum des Raums nicht fortpflanzen, aber indem Jules laut genug schrie, konnte er Schwingungen in seinem Helmvisier auslösen, die durch direkten Kontakt in das Glas des Bullauges und von dort ins Ohr der Kosmographin übertragen würden.
Er wiederholte sich. Irgendwie gelang es ihm, eher fröhlich als verzweifelt zu klingen. Alles sei nur Spaß, schien sein Ton zu sagen. Die Lippen der Frau bewegten sich, als sie zurückschrie.
Die Kuppel erhellte sich. Vermutlich hatte die Frau den Lichtschalter betätigt, um besser sehen zu können, was da vor sich ging. Doch dann bemerkte ich, dass dieses Licht durch die Lücke zwischen den Hemisphären eindrang. Die Sonne musste aufgegangen sein. Man hatte uns vor geradezu explosiven Sonnenaufgängen gewarnt. Dieser jedoch schien in mehr als einer Hinsicht explosiv zu sein; das Licht flammte auf, verblasste und flammte dann noch heller auf. Es wallte und kochte. Eine lautlose Erschütterung durchlief den Rahmen des Ikosaeders. Lio sprang so heftig auf, dass ihm beinahe der tödliche Fehler unterlaufen wäre, geradewegs nach oben aus der Kuppel und in den Raum davonzufliegen. Aber er konnte sich gerade noch bremsen, indem er das Kommunikationskabel packte, das ihn mit uns anderen verband, und über dem Teleskopspiegel herumschwang, bis es ihm endlich
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