Anathem: Roman
schlossen sich zu einer ungestümen Umarmung um mich. Er drückte das Ohr gegen meine Brust. Seine Kopfhaut fühlte sich an wie Disteln. Ich spürte, wie sein Brustkorb zu wogen begann. Jesry, Arsibalt und Jules strampelten sich aus ihren Anzügen frei. Jules ging geradewegs zu der Luke, legte einen Hebel um und stieß sie auf. Alles trübte sich – nicht zu Dunkelheit, sondern zu einem verwaschenen Gelbgrau, als schiene zu viel Licht hindurch.
Fraa Jad und ich schwebten in einem weißen Korridor. Ich war nackt. Er trug einen der grauen Overalls, die wir in unserer Ausrüstung mitgebracht hatten. Es gab Anzeichen dafür, dass er einen in die Wand eingelassenen Stahlspind durchwühlt hatte. Bei ihm schwebten zwei Bündel aus silbrigem Stoff. Er nestelte eins auf. Wie sich herausstellte, hatte es Ärmel und Beine. Ab und zu schaute er in meine Richtung. Als er bemerkte, dass ich ihn ansah, warf er mir ein graues Päckchen in einem Polybeutel zu: einen weiteren zusammengefalteten Overall. »Zieh das an«, sagte er. »Dann das silberne Kleidungsstück darüber.«
»Gehen wir ein Feuer löschen?«
»In gewisser Weise.«
Von der Anstrengung, die es mich kostete, die Polyverpackung aufzureißen, begann mir das Herz zu hämmern. Den Overall anzuziehen ließ mein Sauerstoffdefizit hochschnellen. Sobald ich mich genug erholt hatte, um ein paar Worte herauszubringen, fragte ich: »Wo sind die anderen?«
»Es gibt ein Narrativ, das demjenigen, das du und ich wahrnehmen, nicht sonderlich unähnlich ist, und darin haben sie sich an die Erforschung des Schiffes gemacht. Sie haben vor, sich friedlich zu ergeben, sobald jemand sie bemerkt.«
»Gibt es irgendeinen besonderen Grund, warum sie uns zurückgelassen haben?«
»Verlassen des Anzugs nach so langer Zeit. Sich in einem geschlossenen Raum wiederzufinden, nachdem man sich an die durch nichts verstellte Weite gewöhnt hat. Die Atmosphäre eines anderen Kosmos zu atmen. Auswirkungen längerfristiger Schwerelosigkeit. Allgemeiner Stress und Aufregung. Das alles induziert ein Syndrom, das ein paar Minuten anhält, eine Art Schock, der Verwirrung oder sogar Bewusstlosigkeit hervorrufen kann. Das geht bald vorüber, wenn man gesund ist. Für den Himmelswart, muss man wohl schließen, war es zu viel.«
»Also«, versuchte ich es, »nachdem wir die Anzüge abgelegt haben, waren wir alle ein paar Minuten lang verwirrt oder bewusstlos. Das heißt – in unserem Denksystem -, wir haben den Bezug zu dem Narrativ verloren. Aufgehört, es zu verfolgen. Welche Fähigkeit des Bewusstseins es auch immer in die Lage versetzt, fortwährend den Fliege-Fledermaus-Wurm-Trick zu vollführen – sie hat sich dort eine Zeitlang abgeschaltet.«
»Ja. Und die anderen haben das Bewusstsein in einer Weltspur wiedererlangt, in der du und ich tot sind.«
»Tot.«
»Das habe ich doch gerade gesagt.«
»Das ist also der Grund, warum sie uns zurückgelassen haben«, sagte ich. »Sie haben uns gar nicht zurückgelassen, weil wir es in ihrer Weltspur gar nicht bis hierher geschafft haben.«
»Ja. Leg das an.« Er reichte mir eine Atemschutzmaske.
»Was ist mit der fthosischen Astronomin? Wird sie nicht ihre Vorgesetzten holen oder so etwas?«
»Sie ist mit Jules gegangen. Er spricht mit ihr. Für solche Sachen hat er eine Begabung.«
»Lio, Arsibalt, Jesry und Sammann spazieren also einfach in aller Offenheit auf dem Schiff herum und suchen jemanden, dem sie sich ergeben können?«
»So eine Weltspur gibt es.«
»Das ist ziemlich bizarr.«
»Keineswegs. In den Wirren des Krieges sind solche Vorkommnisse ganz normal.«
»Und was ist mit dieser Weltspur? Was machen die vier in dem Narrativ, in dem du und ich uns befinden?«
»Ich bin in mehreren«, sagte Fraa Jad, »ein Zustand, der nicht leicht aufrechtzuerhalten ist. Deine Fragen machen es nicht gerade leichter. Hier hast du eine einfache Antwort. Die anderen sind alle tot.«
»Ich möchte mich nicht in einer Weltspur aufhalten, in der meine Freunde allesamt tot sind«, sagte ich. »Bring mich zu der anderen zurück.«
»Es gibt kein Bringen, und es gibt kein Zurück«, sagte Jad. »Nur ein Gehen, und zwar vorwärts.«
»Ich will nicht in einem Narrativ sein, in dem meine Freunde tot sind«, insistierte ich.
»Dann hast du zwei Möglichkeiten: Verlasse die Luftschleuse oder folge mir.« Und Fraa Jad zog sich die Atemschutzmaske über das Gesicht und beendete damit unser Gespräch. Er reichte mir einen Feuerlöscher und nahm sich selbst
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