Anathem: Roman
gelang, sich am Rand einer Kuppelhälfte jäh zum Stehen zu bringen. Das langsam schwächer werdende Licht spiegelte sich in seinem Helmvisier. »Der Weltenverbrenner«, sagte er, »ich glaube, sie müssen die Treibstofftanks
gesprengt haben.« Dann stieß er sich mit einem plötzlichen Ausruf ab und glitt wieder »herab« auf das, was ich bei mir als Boden der Kuppel bezeichnete. Denn die riesigen Hemisphären hatten sich in Bewegung gesetzt, und der Spalt zwischen ihnen wurde deutlich schmaler. Nun gingen tatsächlich die Lichter an.
Der Schlitz verschwand mit einem dumpfen Geräusch, das spür-, aber nicht hörbar war. Ob zum Guten oder zum Schlechten, nun saßen wir hier fest. Immer wieder beäugte ich den großen roten Notfallknopf. Mir blieben noch acht Minuten.
Eine Anzeige auf meinem Display begann sich zu ändern: Der Außenluftdruck, der seit meinem Start ins Vakuum des Raums bei roten null gestanden hatte, war dabei, in Richtung gelber Bereich zu steigen. Jules hatte dasselbe bemerkt; er ging hinüber zu einem vergitterten Luftloch bei der Luke und langte danach. Sein Arm wurde von einströmender Luft zur Seite geschlagen.
»Kartas sei Dank«, sagte Arsibalt. »Mir ist egal, aus welchem Kosmos diese Luft stammt. Ich will sie bloß atmen.«
»Macht euch bitte wieder mit der Ausziehprozedur vertraut, während wir warten«, sagte uns Lio. »Und zeigt euch.« Er schob den Schirm hoch, der seine Anzeigen verdeckt hatte. Wir anderen taten es ihm nach. Zum ersten Mal seit ein paar Stunden konnten wir die Gesichter der anderen auf den Spulobildschirmen sehen und ihre Anzeigen überprüfen. Ich konnte nicht jeden in der Gruppe sehen, weil wir in einem vollgestopften, komplexen Raum »unter« den Stützen des Spiegels verteilt waren. Aber ich konnte Jesry sehen, der noch zwei Minuten hatte. Ich hatte fünf. Ich tauschte den Tank mit ihm; es dauerte lange, die Kuppel unter Luftdruck zu setzen.
Ein paar Minuten später wechselte die Außendruckanzeige schließlich von Gelb auf Grün: gut genug zum Atmen. Genau in dem Augenblick, als mein Sauerstoffvorratsanzeiger von Rot (äußerste Gefahr) auf Schwarz (du bist tot) wechselte. Mit meinem allerletzten Vorrat Arbreluft sprach ich den Befehl, der meinen Anzug der mich umgebenden Atmosphäre öffnete. Meine Ohren knackten. Meine Nase juckte und nahm einen komischen Geruch wahr: den von etwas, irgendetwas anderem als meinem eigenen Körper. Lio, der meine Werte genau im Auge behalten hatte (ich hatte weniger Sauerstoff als jeder andere, den ich sehen konnte), trat hinter mich und öffnete die Rückseite meines Anzugs. Ich zog die Arme aus den Ärmeln, packte mit beiden Händen den Rand der KTU und
zog mich splitternackt aus dem verfluchten Ding. Meine Kameraden beobachteten mich mit nicht geringem Interesse. Der einzige andere Arbrer, der diesen Stoff schon einmal geatmet hatte, war der Himmelswart gewesen, und der hatte es offenbar nur ein paar Minuten überlebt. Meine Hände flogen vor mein Gesicht. Ich knetete es, kratzte mich an der Nase, rieb mir eine Woche Schlaf aus den Augen, fuhr mir mit den Fingern ins Haar. Hätte mir erbaulichere Handlungen einfallen lassen können, aber das war ein biologischer Imperativ.
Lio tastete über die Vorderseite seines Anzugs, fand einen Schalter, betätigte ihn. »Kannst du mich hören?«
»Ja, ich kann dich hören.« Die anderen tasteten ebenfalls nach ihrem Schalter.
»Nicht, dass es irgendeinen Unterschied macht – da wir ja alle rausmüssen -, aber wie ist es, mein Fraa?«
»Mein Herz schlägt wie verrückt«, sagte ich und hielt inne, da es mich erschöpft hatte, so viel zu sagen. »Ich dachte, ich wäre vielleicht bloß aufgeregt, aber – vielleicht ist diese Luft für uns nicht atembar.« Ich sprach stoßweise, unterbrochen von keuchendem Nach-Luft-Schnappen; mein Körper befahl mir, schneller zu atmen. »Ich kann verstehen, warum der Himmelswart ein Aneurysma erlitten hat.«
»Raz?«
Japs, japs. »Ja?« Japs japs japs …
»Helft mir aus dem Ding heraus!«, drängte Lio.
Jesry packte Lio, wirbelte ihn herum, riss die Rückenklappe auf. Lio kletterte aus seinem Anzug, als stünde dieser in Flammen. Mit einem irren Ausdruck im Gesicht glitt er auf mich zu. Alle meine Erfahrungen von zu Hause geboten mir, ihm aus dem Weg zu gehen, wenn er sich mir in dieser Stimmung näherte, aber ich hatte schlicht nicht die Kraft dazu. Seine Arme, von denen ich im Lauf der Jahre so viel grobe Behandlung erfahren hatte,
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