Anathem: Roman
auch einen. Dann stieß er sich ab, um den Korridor entlangzuschweben.
Nun tat mein Verstand etwas Absurdes, das heißt, er beschäftigte sich mit den Grundbestandteilen des Schiffes anstatt mit Dingen,
die wirklich wichtig waren. Es war, als wäre ein Barb ähnlicher Teil meines Wesens in den Vordergrund getreten, hätte meine Seele zur Seite gedrängt und alle meine Energien und Fähigkeiten auf die Dinge gerichtet, die Barb interessant finden würde, wie zum Beispiel Türverriegelungsmechanismen. Subsysteme, die für Belanglosigkeiten wie Trauer um meine Freunde, Angst vor dem Tod, Verwirrung hinsichtlich der Weltspuren und den Wunsch, Fraa Jad zu erwürgen, zuständig waren, wurden von der Energiezufuhr abgeschnitten.
Es gab viele Türen, alle verschlossen, aber nicht verriegelt. Laut Jules war das hier der Normalzustand. Diese äußeren Bereiche des Schiffes waren aufgeteilt in getrennte, unabhängig voneinander unter Druck stehende Abschnitte, damit ein Meteoreinschlag in einem Abschnitt nicht auch die anderen in Mitleidenschaft zog. Infolgedessen verbrachte man unmäßig viel Zeit damit, Türen zu öffnen und zu schließen. Dabei handelte es sich um runde, gewölbte Luken von drei Fuß Durchmesser mit wuchtigen, banktresorartigen Verriegelungsmechanismen. Man öffnete sie, indem man zwei symmetrische Griffe packte und diese in entgegengesetzte Richtungen zog, was in der Schwerelosigkeit, in der das Aufsetzen der Füße und der Einsatz des Körpergewichts keinen Rückhalt in der Theorik fanden, sehr praktisch war. Von der Anstrengung blieb ich jedes Mal nach Luft schnappend in Fraa Jads Kielwasser zurück. Eine der Fragen, mit der ich ihn hatte ärgern wollen, lautete: Warum ich? Kannst du, was auch immer du vorhast, nicht allein tun, damit ich in einem Narrativ sein kann, in dem meine Freunde am Leben sind? Und vielleicht war das die Antwort. Ich war aus dem gleichen Grund ausgewählt worden, aus dem die Hierarchen in Edhar mich der Glockenläutemannschaft zugeteilt hatten: Ich war ein Trottel. Ich konnte schwere Türen öffnen. Es schien immer noch besser zu sein, als gar nichts zu tun, also schwebte ich vor Fraa Jad her und strengte mich an. Jedes Mal, wenn ich eine aufzerrte, rechnete ich damit, in die Mündung der Waffe eines urnudischen Raumsoldaten zu starren, aber so viele Leute gab es hier im Observatorium einfach nicht, und als wir dann schließlich in einem Korridor doch auf jemanden, eine Frau, trafen, schnappte sie nur entsetzt nach Luft und ging uns aus dem Weg. Die Feuerwehrmannverkleidung war so simpel, so naheliegend, dass ich davon ausgegangen war, sie könne niemals funktionieren. Aber sie hatte bei dem ersten Menschen, dem wir begegnet
waren, perfekt funktioniert, was wahrscheinlich bedeutete, dass sie bei den nächsten hundert genauso gut funktionieren würde.
Der Korridor führte zu einer kugelförmigen Kammer, die offenbar als Foyer für den gesamten Vertex diente. Wir mussten sowieso hindurch, um aus diesem Vertex herauszukommen und in andere Teile der Daban Urnud zu gelangen. Wie wir durch Ausprobieren herausfanden, war einer der Ausgänge mit einem sehr langen, röhrenförmigen Schacht verbunden. »Das Spannglied«, verkündete ich, als ich darauf stieß. Fraa Jad nickte und stürzte sich hinein.
Bis jetzt hatten das enorme Ikosaeder und seine imposanten Vertexzitadellen fast alle meine Eindrücke von dem Schiff ausgemacht. Ihre Größe und ihre Merkwürdigkeit ließen einen leicht vergessen, dass sich die ganze Komplexität und Bevölkerung der Daban Urnud im Wesentlichen anderswo konzentrierte: in dem sich drehenden Kugelstapel. Bis jetzt hatten Fraa Jad und ich zwei Barbaren geglichen, die in einem verlassenen Wachhaus an der Grenze eines Reichs Türen eintraten. Nun jedoch hatten wir uns auf den Weg gemacht, der uns zur Hauptstadt führen würde. Es gab ein Dutzend Spannglieder. Sechs gingen von jedem der mächtigen Lager an den Enden des Kugelstapels aus. Der Kugelstapel war einem Affen vergleichbar, der sich in einer Packkiste mit Armen und Beinen abstützt. Manchmal musste ein Arm schieben, manchmal musste er ziehen. Er bog sich, um Stöße abzufangen. Er war lebendig: ein Bündel aus Knochen, die Kraft gaben, Muskeln, die reagierten, Gefäßen, die Materialien transportierten. Nerven, die kommunizierten, und Haut, die alles andere schützte. Die Spannglieder mussten alle diese Funktionen erfüllen und besaßen daher viel von dieser Komplexität. Alles, was Fraa Jad und
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