Anathem: Roman
doppelte Lebensgröße, erschien einem aber noch größer, weil sie auf einem riesigen Steinsockel stand. Sie stellte Knous dar, alt, aber muskulös, mit wallendem langem Bart und Haar, ausgestreckt an den knorrigen Wurzeln eines Baumes, den Blick ehrfürchtig und staunend nach oben gerichtet. Wie um sich vor der Vision zu schützen, hatte er eine Hand gehoben, konnte aber der Versuchung nicht widerstehen, darüber hinwegzuspähen. Mit der anderen Hand hielt er einen Stift umklammert. Zu seinen Füßen auf dem Boden lagen ein Lineal, ein Zirkel und eine Tafel, in die präzise konstruierte Kreise und Vielecke eingeritzt waren.
Barb hatte nicht an die Decke geschaut, als er zum ersten Mal hier hereingekommen war. Das lag an der Struktur seines Gehirns, die ihn für Gesichtsausdrücke blind machte. Jeder andere – sogar ich, der ich es längst kannte – blickte auf, um zu sehen, was eine solche Wirkung auf den armen alten Knous hatte. Die Antwort (zumindest seit die Statue hier aufgestellt worden war) lieferte ein kleines rundes Fenster oder Loch am höchsten Punkt der Rotundenkuppel, das die Form eines gleichschenkligen Dreiecks hatte und einen Sonnenstrahl hereinließ.
»Knous war Steinmetzmeister«, fing ich an. »Auf einer alten Tafel,
die entstand, bevor er seine Vision hatte, wurde er mit einem Adjektiv beschrieben, das jemanden bezeichnet, der buchstäblich erhaben ist. Das könnte entweder bedeuten, dass er als Steinmetz besonders gut oder dass er in der Religion seiner Gegend und Zeit so etwas wie ein heiliger Mann war. Auf Befehl seines Königs erbaute er einem Gott einen Tempel. Der Stein wurde an einem Ort einige Meilen flussaufwärts gewonnen und auf Flößen zu der Baustelle hinuntertransportiert.«
Hier unterbrach mich einer der Dards mit einer Frage, und ich musste innehalten und erklären, dass all das weit weg passiert war und dass ich nicht von unserem Fluss oder unseren Steinbrüchen sprach. Ein Nicknack fing an, eine lächerliche Melodie zu krähen; ich wartete, bis sein Besitzer es zum Verstummen gebracht hatte, bevor ich fortfuhr.
»Auf einer Wachstafel zeichnete Knous Maße auf und begab sich dann hinauf in den Steinbruch, um den Steinmetzen Instruktionen zu geben. Eines Tages versuchte er gerade, ein besonders schwieriges Problem in der Geometrie des Stückes zu lösen, das behauen werden musste. Er setzte sich in den Schatten eines Baumes, der am Ufer stand, um an diesem Problem zu arbeiten, und dort hatte er eine Vision, die sein Bewusstsein und sein Leben veränderte.
So weit besteht allgemein Einigkeit. Die Beschreibung dieser Vision ist jedoch eine indirekte Überlieferung durch diese Frauen.« Mit ausgestrecktem Arm zeigte ich auf ein Paar etwas kleinerer Skulpturen, die mit der des Knous (unausweichlich) ein gleichschenkliges Dreieck bildeten. »Seine Töchter Hyläa und Deat, die als Zwillingsschwestern galten.«
Die Antibazier waren weit vor mir. Sie hatten sich bereits an den Fuß der Deat begeben und sich zum Gebet hingekniet. Manche durchwühlten ihre Beutel nach Kerzen. Andere, die auf ihre Nicknacks schielten, während sie Phototypien schossen, stolperten und stießen zusammen. Deat war eine in einen Umhang gehüllte, auf die Knie gesunkene, Knous zugewandte Gestalt, deren Gewand ihr Gesicht vor dem Licht des Rundfensters schützte.
Unsere Mutter Hyläa dagegen stand aufgerichtet da und zog sich gerade den Umhang vom Kopf, um besser direkt nach oben ins Licht blicken zu können. Mit der anderen Hand zeigte sie darauf, und ihre Lippen waren geöffnet, als wollte sie gerade eine Beobachtung äußern.
Ich gab eine Legende um diese beiden Statuen zum Besten. Sie waren im Jahr -2270 von Tantus, dem Bazischen Kaiser, in Auftrag gegeben worden und als Gegenstücke zu der älteren des Knous gedacht, die er soeben bei der Plünderung der Überreste von Ethras erbeutet hatte. Er hatte sich auch den Steinbruch angeeignet, aus dem der Marmor für die Originalstatue stammte, und veranlasst, dass zwei weitere große Blöcke gewonnen und in speziell dafür angefertigten Lastkähnen nach Baz verschifft wurden. Der beste Bildhauer jener Ära hatte fünf Jahre gebraucht, um sie zu bearbeiten.
Bei der offiziellen Enthüllung war Tantus von Hyläas Blick so gepackt gewesen, dass er den Bildhauer zu sich befohlen und ihn gefragt hatte, was Hyläa zu sagen im Begriff sei. Der Bildhauer hatte die Antwort verweigert, doch Tantus hatte darauf bestanden. Darauf hatte der Bildhauer bemerkt,
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