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Anathem: Roman

Anathem: Roman

Titel: Anathem: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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gerade in dieser Uneindeutigkeit liege die ganze Kunst, die ganze Wirkung dieser Statue. Der völlig faszinierte Tantus hatte ihn noch manch anderes zu diesem Thema gefragt, dann das kaiserliche Schwert gezogen und es dem Bildhauer ins Herz gestoßen, damit der nie mehr Gelegenheit bekäme, durch die Beantwortung der Frage sein eigenes Kunstwerk zu sabotieren. Obwohl die Wissenschaft späterer Jahrhunderte diese Geschichte in Zweifel gezogen hatte, wie sie es mit allen guten Geschichten tat, war es obligatorisch, sie an dieser Stelle in der Führung zu erzählen, und den Dards bereitete sie einen Mordsspaß.
    In meinen Augen stellten diese beiden Skulpturen eine so unverblümte Pro-Hyläa- und Anti-Deat-Werbung dar, dass es mir fast schon peinlich war. Die Deolatisten schienen jedoch vom Gegenteil überzeugt zu sein. Im Laufe der Apert war der Sockel der Deat mit so vielen Kerzen und Amuletten, Blumen, Stofftieren, Fetischen, Phototypien von Toten und Zetteln überladen worden, dass die Einser ihn nach Schließung der Tore wochenlang würden säubern müssen.
    »Deat und Hyläa zogen los, um ihren Vater zu suchen, und fanden ihn in Nachdenken versunken unter dem Baum. Beide sahen die Tafel, auf der er seine Eindrücke festgehalten hatte, und beide lauschten seinem Bericht. Nicht lange danach sagte Knous etwas so Beleidigendes zum König, dass er ins Exil geschickt wurde, wo er bald darauf starb. Seine Töchter fingen an, den Leuten unterschiedliche Geschichten zu erzählen. Deat sagte, Knous habe zum Himmel geblickt und gesehen, wie die Wolken sich teilten, um ihn eine
Lichtpyramide schauen zu lassen, die dem menschlichen Auge normalerweise verborgen blieb. Er habe in eine andere Welt geschaut: ein himmlisches Königreich, in dem alles glänzend und vollkommen war. Daraus zog Knous ihr zufolge den Schluss, dass es ein Fehler war, Götzen, wie er einen gebaut hatte, anzubeten, waren diese doch nichts als plumpe Nachbildungen echter Götter, die in einem anderen Reich lebten, und dass wir diesen Göttern selbst huldigen sollten, nicht von unseren eigenen Händen geschaffenen Artefakten.
    Hyläa sagte, Knous habe tatsächlich gerade eine Draufsicht in Geometrie gehabt. Was ihre Schwester Deat fälschlich als himmlische Pyramide gedeutet habe, sei in Wirklichkeit ein flüchtiger Blick auf ein gleichschenkliges Dreieck gewesen: nicht eine grobe, ungenaue Abbildung davon, so wie Knous sie mit Lineal und Zirkel auf die Wachstafel zeichnete, sondern ein reiner, theorischer Gegenstand, über den man absolute Aussagen treffen könne. Die Dreiecke, die wir hier in der physischen Welt zeichneten und mäßen, seien alle nur mehr oder minder originalgetreue Darstellungen perfekter Dreiecke, die in dieser höheren Welt existierten. Wir müssten aufhören, sie mit den anderen zu verwechseln, und unseren Verstand auf das Studium reiner geometrischer Figuren verwenden.
    Euch wird aufgefallen sein, dass es zwei Ausgänge aus diesem Raum gibt«, bemerkte ich, »einen auf der linken Seite bei der Deatstatue, den anderen auf der rechten bei der Statue der Hyläa. Damit wird die große Spaltung symbolisiert, die sich nun zwischen den Anhängern der Deat, die wir Deolatisten nennen, und denen der Hyläa vollzog, die in den frühen Jahrhunderten Physiologisten hießen. Wenn ihr durch die Tür der Deat geht, werdet ihr euch bald draußen wiederfinden, von wo aus ihr mühelos zum Unariertor zurückfindet. Das machen viele unserer Besucher, weil sie nicht glauben, dass irgendetwas jenseits dieses Punktes für sie von Interesse sein könnte. Wenn ihr mir jedoch durch die andere Tür folgt, heißt das, dass ihr auf dem Hyläischen Weg weitergeht.« Und nachdem ich ihnen ein paar Minuten gewährt hatte, um sich umzusehen und Phototypien zu machen, ging ich hinaus und führte alle außer den Deatpilgern in eine Galerie, in der Bilder und Artefakte aus den Jahrhunderten nach Knous’ Tod zu sehen waren.
    Diese wiederum ging in die Dioramakammer über, einen rechteckigen Raum mit Gewölbedecke und einem Fenstergeschoss, das
viel Licht zur Beleuchtung der Fresken hereinließ. Das zentrale Stück bildete ein maßstabgetreues Modell des Tempels von Orithena. Dieser war, wie ich erläuterte, von Adrakhones gegründet worden, dem Entdecker des Adrakhonischen Theorems, demzufolge das Quadrat über der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks gleich der Summe der Quadrate über den anderen beiden Seiten ist. Um das zu würdigen, war der Boden der Kammer mit

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