Anathem: Roman
zahlreichen sichtbaren Beweisen des besagten Lehrsatzes geschmückt, von denen man jeden einzelnen erkennen konnte, wenn man nur lange genug stehen blieb und den Boden anstarrte.
»Wir befinden uns nun in der Periode von etwa 2900 Jahren vor der Rekonstitution bis etwa minus 2600«, sagte ich. »Adrakhones verwandelte Orithena in einen Tempel, der der Erforschung der HTW oder Hyläischen Theorischen Welt gewidmet war – der Ebene der Existenz, auf die Knous einen Blick erhascht hatte. Menschen kamen von überall her. Ihr werdet bemerkt haben, dass diese Kammer einen zweiten Eingang besitzt, der von draußen hereinführt. Das soll daran erinnern, dass viele, die die andere Abzweigung genommen und sich vorübergehend bei den Deolatisten aufgehalten hatten, gewissermaßen aus der Kälte wieder hereinkamen und versuchten, ihre Vorstellungen mit denen der Orithener in Einklang zu bringen. Manchen gelang das besser als anderen.«
Ich schaute zu den Dards hinüber. Vorher in der Rotunde hatten sie eine Zeitlang über die Größe gewisser Teile von Knous’ Anatomie spekuliert (die unter einer Falte seines Gewands verborgen waren) und dann eine Diskussion darüber begonnen, wer es ihnen mehr angetan hatte: Deat, die praktischerweise kniete, oder Hyläa, die gerade anfing, ihre Kleider abzustreifen. In dieser Kammer hatten sie sich nun unter dem berühmtesten Fresko versammelt, der Darstellung eines zornigen Mannes mit dunklem Bart, der, einen Rechen schwingend, die Stufen des Tempels hinabstürmte und eine Gruppe verwirrter, die Augen rollender Würfelspieler in Angst und Schrecken versetzte. Es war klar, dass dieses Bild den Dards gefiel. Da sie bisher friedlich gewesen waren, ging ich zu ihnen und erklärte es ihnen. »Das ist Diax. Er war berühmt für sein diszipliniertes Denken. Die Art und Weise, wie Orithena von den Enthusiasten unterwandert wurde, beunruhigte ihn mehr und mehr. Das waren Leute, die nicht verstanden, wie die Orithener Zahlen gebrauchten. Sie phantasierten sich alle möglichen Zahlenverehrungsriten
zusammen. Als Diax eines Tages nach dem Singen des Anathems aus dem Tempel kam, sah er, wie diese Burschen mithilfe von Würfeln wahrsagten. Das machte ihn so wütend, dass er einem Gärtner den Rechen entriss und die Enthusiasten damit aus dem Tempel vertrieb. Danach hatte er an diesem Ort das Sagen. Er prägte den Begriff der Theorik , und seine Anhänger nannten sich ›Theoren‹, um sich von den Enthusiasten zu unterscheiden. Diax sagte etwas, was für uns immer noch sehr wichtig ist, nämlich, dass man sich hüten sollte, etwas zu glauben, nur weil man es gerne glauben möchte. Das nennen wir ›Diax’ Rechen‹, und manchmal sagen wir es uns selbst als Mahnung vor, uns die Urteilsfähigkeit nicht durch reine Emotionen vernebeln zu lassen.«
Diese Erklärung war zu lang für die vier Dards, die mir den Rücken zudrehten, kaum dass ich den Kampf mit dem Rechen hinter mir hatte. Mir fiel auf, dass bei einem von ihnen – bei dem mit dem Arm in der Schlinge – ein merkwürdiger knöcherner Kamm die Wirbelsäule hinauflief und ein paar Zoll über den Kragen seines Oberteils hinausragte. Normalerweise wurde es durch die losen Enden seines Burnus verdeckt, aber als er sich von mir abwandte, sah ich es deutlich. Es war wie eine zweite, außerhalb des Skeletts liegende Wirbelsäule, die an der eigentlichen befestigt war. An ihrer Spitze befand sich ein rechteckiges Schildchen, kleiner als meine Handfläche, mit einem Kinagramm darauf, in dem ein großes Strichmännchen einem kleineren einen Fausthieb versetzte. Das war eine der Wirbelsäulenklammern, die Quin mir und Orolo beschrieben hatte. Ich vermutete, dass sie den rechten Arm des Mannes außer Gefecht gesetzt hatte.
Ein Deckenfresko am anderen Ende zeigte den Ausbruch des Ekba und die Zerstörung des Tempels. Die sich anschließende Reihe von Galerien enthielt Bilder und Artefakte aus der darauf folgenden peregrinischen Periode, wobei separate Nischen den vierzig Geringeren und den Sieben Großen Peregrins gewidmet waren.
Von dort gelangten wir in die große elliptische Kammer, deren Statuen und Fresken dem auf den Stadtstaat Ethras konzentrierten Goldenen Zeitalter der Theorik gewidmet waren. Ein Ende des Raums wurde von Protas beherrscht, dessen Blick auf die an die Decke gemalten Wolken gerichtet war, das andere von seinem Lehrer Thelenes, der mit seinen – teils ehrfürchtig, teils fasziniert, bedrückt oder empört dreinschauenden –
Weitere Kostenlose Bücher