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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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begreife ich, dass er den Blick nach innen richtet, um sich auf seine Lust zu konzentrieren, begreife, was ihn aus dem Takt bringt. Es ist das Alter. Oder die Angst vor dem Alter.
    Als würde mir sein Alter etwas ausmachen.
    Oder vielleicht war es in Montreux ja gar nicht so. Mag sein, dass ich den Liebhaber, den ich heute kenne, der Erinnerung an den Mann überstülpe, mit dem ich damals geschlafen habe. Möglich, dass er bei jenem ersten Mal mitreißend und begierig war, virtuos: der Trieb untrennbar mit dem Akt verbunden. Vielleicht sind ja die ersten Male dafür da.
    Ich weiß jedenfalls nur, dass ich eines Nachts, in einem kleinen Zimmer inmitten anderer kleiner Zimmer am Ufer des Genfer Sees, während Seáns ausgedehnter Bemühungen, irgendwann den Kopf wandte und auf dem Nachttisch seine Schlüssel und sein Kleingeld erblickte; dahinter die offene Tür des Badezimmers, in dem noch immer das Gebläse dröhnte – und dass mir einfiel, wer ich war.
    Ich weiß nicht, ob es Seán überraschte, wie schnell ich mich anschließend davonmachte, aber er war fast schon eingeschlafen und hielt mich nicht zurück. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist die Tür in meinem Rücken und der lange Korridor, der sich zu beiden Seiten von mir erstreckte. Ich glaube, ich habe mich verlaufen. Mir ist, als hätte ich – ziemlich energisch – versucht, in mein eigenes Zimmer zu gelangen, aber auf der falschen Etage: Die Zimmernummern hatten mich verwirrt. Ich taumelte die mit Teppich belegten Flure entlang, betrat Lifts und verließ sie wieder und begegnete niemandem, höchstens vielleicht einem Pärchen, das sich wortlos an die Wand drückte, als ich vorbeikam. Doch selbst das bleibt undeutlich. Irgendeine Jalousie war heruntergelassen und wurde erst wieder hochgezogen, als ich anderntags im Licht sämtlicher Lampen unversehrt und halb entkleidet in meinem eigenen Bett erwachte.
    Es ärgerte mich. Nicht dass ich Schuldgefühle hatte, aber ich glaube, ein bisschen verärgert war ich schon. Zunächst einmal konnte ich mich nicht überwinden, den Frühstückssaal zu betreten. Ich setzte meine Sonnenbrille auf und steuerte die erstbeste Patisserie an, dann trug ich meinen Kater zum Bahnhof und nahm den ersten Zug, der zur Stadt hinausfuhr, ein niedliches, altmodisches kleines Ding mit Sitzbänken, das eine frappierende Entfernung in die Berge hinauf zurücklegte, durch Tunnel und über verborgene Pässe, bis es schließlich eine blumenübersäte Hochalpenwiese voll grasender Schokoladenriegelkühe erreichte, die Glocken um ihre pendelnden schönen malvenfarbenen Hälse trugen. Die wenigen verstreuten Häuser hatten hölzerne Balkone mit herzförmigen Öffnungen. Über den Geländern hingen weiße Federbetten, die in der Sonne auslüfteten. Das alles war so wunderbar absurd, dass ich beschloss, in Gstaad auszusteigen, einem Dorf mit wenigen Straßen und putzigen kleinen Lädchen, die allesamt Namen wie Rolex oder Cartier trugen. Es gab ein Gucci-Geschäft und ein Benetton-Geschäft und einen Feinkostladen mit erstaunlichem Käse. Ich lief durchs ganze Dorf und fand kein einziges Geschäft, wo man Cornflakes, Müsli oder wenigstens Toilettenpapier hätte kaufen können, und ich fragte mich, ob reiche Leute solche Dinge etwa einfliegen ließen. Möglicherweise waren sie gar nicht darauf angewiesen, waren darüber hinaus.
    Mein Ehebruch – ich wusste nicht, wie ich es sonst nennen sollte – klang in meinen Knochen nach; ein leichter Schmerz beim Gehen, gelegentlich ein beunruhigend muffiger Geruch. Am Morgen hatte ich zwar geduscht, aber ich merkte, dass ich umkehren und mich neuerlich säubern musste – ein Gedanke, der mich laut auflachen ließ. Es war ein leicht entsetztes Lachen, aber trotzdem. An jenem Nachmittag in Gstaad fühlte ich mich nicht etwa schuldig, ich fühlte mich selbstmordgefährdet. Oder die Kehrseite von selbstmordgefährdet: Ich fühlte mich, als hätte ich mein Leben vernichtet und niemand sei tot. Im Gegenteil, wir alle waren doppelt so lebendig.
    Als ich packen ging und Seán, vor dem mir graute, gegenübertrat, hatte ich zugleich das Gefühl, dass die ganze Geschichte, seien wir ehrlich, für eine seismische moralische Verschiebung ein wenig enttäuschend war. Im Foyer und im Minibus zum Flughafen ignorierte er mich so angestrengt, dass ich ihm am liebsten einen Zettel zugesteckt hätte: »Wie kommst du eigentlich darauf, dass ich mir etwas daraus mache?« Es war kaum der Rede wert, nicht Seán und schon

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