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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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wird.
    Vielleicht bin ich befangen. Das Foto erscheint auf meinem Bildschirmschoner und wird dann überblendet, aber es ist nie so reizend, wie ich sie an jenem Tag in Erinnerung habe. Es heißt, je älter man wird, umso weniger träumt man, doch so abwesend und vollkommen still sie auch war, eine unmerkliche Anmut bewirkte, dass sie sehr lebendig aussah.
    Und jung. Sie war neunundfünfzig Jahre alt.
    Als sie fahrig erwachte, lachten wir und behaupteten, sie habe geschnarcht. Dann wurde Jack nach oben geschickt, weil er gesagt hatte: »Oma hat im Schlaf gefurzt. Oma hat gefurzt.«
    »Immer musst du es bis zum Äußersten treiben«, rief Fiona seinen eifrigen kleinen Beinen hinterher, die über ihr entschwanden, während Joan, die aufrichtig erschrocken und zugleich belustigt war, meinte: »Nun lass doch das Kind in Frieden. Das war doch harmlos.«
    An jenem Tag hatte ich ein gelindes Interesse an Evie – immerhin hatte ich mit ihrem Vater geschlafen, nicht wahr? –, konnte aber nicht ergründen, welches der Kinder sie war. Die Mädchen, die Megan eingeladen hatte, waren grotesk übergewichtig und schwer auszuloten. Sie trugen zu große Partykleider oder flippige Tops; mindestens zwei von ihnen waren in Trainingshosen erschienen – unmöglich auszumachen, für wen sie sich hielten. Ohnehin zeigten diese Leutchen keinerlei Interesse an uns. Zuneigung hatten sie nur füreinander; die Blicke, die sie tauschten, waren so leidenschaftlich und scheu.
    Ich verteilte die Teller und die echten Leinenservietten, die Fiona mir reichte, die echten Gläser und das Metallbesteck. Ich stellte eine Karaffe Mineralwasser und eine weitere mit Orangensaft auf den Tisch und hielt alles für albern. Das waren doch keine Erwachsenen, sondern große, unbeholfene Kinder. Wirf ihnen eine Tüte Tortillachips hin, dachte ich, und verzieh dich.
    »Wer möchte Lasagne?«
    Eins der Mädchen, ein großes, weiches Geschöpf names Saoirse, hob die Hand. Sie war in ein pinkfarbenes Satinkleid gestopft, das sich vielleicht eine Fünfjährige ausgesucht hätte, und in ihrer Achselhöhle lag ein Schleier rotgoldener Haare.
    Ich warf Fiona einen Blick zu. Sie verdrehte in gespieltem Schrecken die Augen.
    Diese Kinder wuchsen nicht heran – sie wurden ausgewechselt.
    »Kommt essen!«
    Um ehrlich zu sein, beunruhigten sie mich ziemlich, die Haare. Sie sahen entzückend aus, wo sie abstoßend hätten wirken müssen. Und in der Tat wirkten sie doppelt so abstoßend, wenn man von ihnen zu dem großen Puddinggesicht des Kindes aufsah. Ich sollte wirklich mehr unter Leute gehen, dachte ich – so absonderlich, wie ich es finde, kann es doch gar sein. Außerdem dachte ich: Irgendetwas ist hier falsch gelaufen .
    Dann erblickte ich Evie. Sie gab sich mit einem Aufblitzen der allzu schönen Augen ihres Vater zu erkennen. Es geschah, als sie mich direkt ansah, wie eine verborgene Tür, die sich öffnet. Um die Brust herum war sie noch immer ein bisschen unterentwickelt, aber das Fett war größtenteils verschwunden. Und noch etwas hatte sich verändert – ich meine, abgesehen von allem anderen, denn alles hatte sich verändert –, etwas Wesentliches war geschehen: Sie sah glücklich aus. Oder nicht so sehr glücklich als ausnahmsweise einmal zugehörig. Nicht so verängstigt.
    Sie machte mir zu schaffen, die Vorstellung, dass sie immer so angstvoll gewesen war. Ich fragte mich, was das für ein Mann war, mit dem ich – vor wie vielen Monaten? – geschlafen hatte, und ob er gleich durch die Tür treten würde. Vor drei Monaten. Montreux war drei Monate her, und ich wollte Seán Vallely nie wiedersehen. Ich war nicht nur beschämt, sondern geradezu angewidert; der Gedanke, mit ihm reden zu müssen, hatte etwas leicht Schmuddeliges, so als zöge man nach dem Duschen getragene Kleidungsstücke an.
    Dennoch, von seiner Tochter war ich fasziniert. Ich beobachtete sie, als biete sie einen Schlüssel zu diesem Mann, dessen Augen in ihrem Gesicht sinnvoller wirkten als in seinem; die gleichen langen schwarzen Wimpern, das gleiche Meergrau mit dem blassen Lichtkranz um die Pupillen, weiß oder golden.
    Ich hatte ihr nichts zu sagen.
    »Möchtest du etwas Saft?«, fragte ich, als die Kinder sich zu Lasagne und Krautsalat um den Tisch scharten – es war kein einziges pinkes Marshmallow in Sicht.
    »Ja, bitte.«
    »Oh, was für schöne Haare.« Ich berührte ihre schwarzen Locken, was ihr zu gefallen schien. »Föhnst du sie selbst?«
    Sie war feucht von Schweiß. Das

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