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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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gar nicht Conor gegenüber. Mag sein, dass das unglaubwürdig klingt, aber ich kehrte in mein Dubliner Leben zurück, als wäre nichts geschehen, als wären der See, die Berge, die ganze Schweiz eine Lüge, die jemand ersonnen hatte, um den Rest der Welt damit zu unterhalten.

Toora Loora Loora
     
    Ein Rückblick ist etwas Wunderbares. Im Rückblick wurde mir klar, dass schon lange vor meiner Hotelbegegnung etwas nicht gestimmt hatte mit Joan, dass es ihr schon seit einiger Zeit nicht wirklich gut gegangen war. Aber es gab so viele Gründe, weshalb wir es nicht wahrgenommen haben – nicht zuletzt den, dass sie es nicht wollte.
    Zu ihrer Zeit war unsere Mutter eine große Schönheit gewesen. Ihr äußeres Erscheinungsbild war ihr wichtig. Und weil sie in gewisser Weise zu schön war, gab sie sich große Mühe, ihr Image aufrechtzuerhalten. Sie liebte es, normal zu sein, zu plaudern und zu bezaubern. Wenn sie gut drauf war, brachte sie das Zimmer zum Leuchten.
    Immer beneidete ich alle jene Fremden, die meine Mutter betrachteten und sie halbstundenweise liebten. Manchmal kam es mir vor, als bekämen wir selbst nur die Schattenseite zu sehen: die Verzweiflung vor der geöffneten Schranktür, die Einsamkeit, wenn niemand da war, der sie bewunderte. Es gab Zeiten, da hörte man am Telefon das Schleppende in ihrer Stimme, einen Verlust an Zuversicht, als wäre am anderen Ende der Leitung niemand, der ihr zuhörte.
    Das Aussehen meiner Mutter habe ich nicht geerbt, dafür aber etwas anderes: den Ansporn, den es bedeutete, wenn ich einen überfüllten Raum betrat. Auch von ihrer Gesprächigkeit habe ich etwas abgekriegt, von ihrer Telefonsucht. Und von ihrer Telefonphobie. Es gab Tage, an denen sie es einfach klingeln ließ – aus Gründen, die zu schmerzhaft und zu töricht sind, als dass sie sich erklären ließen. Bei Joan hatte alles seine Licht- und Schattenseiten. Ihre Freuden waren zu abgründig, dauernd musste sie mit ihnen fertigwerden. Dementsprechend sah sie entweder »wie eine Vogelscheuche« aus oder »vorzüglich«, was so viel hieß wie perfekt. Und dem Rest der Welt gegenüber war sie knallhart. Skrupellos. Was ging, was nicht – Hunderte von Regeln über Grundierungen, Lippenstift, ob man etwas verbergen oder herzeigen sollte: Arme über vierzig, Schulter über fünfzig, die Falten am Hals. Krankheiten gestattete sie sich nicht. Das war so unattraktiv. Und schadete der Haut.
    Meine Mutter war unsterblich, wann immer man sie ansah, und sie rauchte wie Hedy Lamarr. Sie war die letzte Raucherin in Dublin. Damit ihre Enkelkinder nicht weinten, stahl sie sich zum Rauchen in den Garten.
    An Megans nächstem Geburtstag in Enniskerry machte sie es wieder so. Man blickte sich um, und sie war verschwunden, nur um kurze Zeit später auf mysteriöse Weise wieder aufzutauchen. Megan wurde neun, insofern war die Feier um einiges zivilisierter, mit Schulfreundinnen, die von ihren Eltern an der Bordsteinkante abgesetzt wurden. Es war unglaublich, wie viel sich verändert hatte. Die Eberesche am Ende des Gartens war jetzt ein kräftiges, hochgewachsenes Ding, der Zaun wieder errichtet worden, um die neuen Häuser zu verbergen, die ihnen inzwischen ihr kleines bisschen Aussicht verstellten. Shay drohte damit, nach Hause zu kommen, und traf dann doch nicht ein, sodass nur Fiona und ich und unsere Mutter da waren. Es schien lange her zu sein, dass wir um Fionas witzigen Resopaltisch herum Pärchen gespielt hatten, die Männer sich draußen aufhielten und den Himmel nach Anzeichen von Regen absuchten. Es gab keinen Wein. Wir wanderten umher, kochten Fertiglasagne und tranken Tee, während eine kompakte kleine Herde neunjähriger Mädchen mit einem einsamen kleinen Bruder im Schlepptau im Haus herumtobte.
    Joan klagte über Müdigkeit, zog ihre viel zu engen Schuhe aus und schlief in einem Sessel ein. Als sie erwachte, war sie aufgebracht, weil sie geschlafen hatte.
    »Habe ich im Schlaf geredet?«, fragte sie, dann lachte sie über die eigene Bestürzung.
    Sie tat recht daran, uns nicht zu trauen. Ich hatte ein Foto von ihr gemacht, ein heimliches: »Meine Mutter, schlafend.« Ich konnte einfach nicht widerstehen.
    Manchmal machte ich mir Sorgen, dass sie in Terenure vereinsamte, ungeachtet ihrer Bataillone von Freundinnen und hoffnungslosen Fällen. Wir alle machten uns Sorgen – aber im Schlaf wirkte unsere Mutter nicht einsam, obgleich sie in gewisser Weise »allein« war. Sie sah aus wie jemand, der geliebt

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