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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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bei denen man kehrtmachen könnte, um ihnen zu folgen, ohne sich bewusst zu sein, dass man ihnen folgt; so wie man sich eines dieser verdammten Schoko-Rice-Krispie-Törtchen greift und nicht merkt, dass man es isst, bis man das Marshmallow entdeckt.
    »Huch, pink!«
    Ich brauche dringend eine Zigarette. Ihre Kinder hätten noch nie eine zu Gesicht bekommen, hatte Fiona mir erzählt – Megan sei in Tränen ausgebrochen, als ein Elektriker sich im Haus eine ansteckte. Ich ziehe meine Handtasche von der Stuhllehne und schlendere zur Türschwelle, vorbei an Shay, der mir mit einem Stück Fleisch zuwinkt, vorbei an regengebleichten Dreirädern und fröhlichen Vorstädtern, hinunter zu der Stelle, wo, angebunden an ihren viereckigen Pfahl, Fionas kleine Eberesche steht und der Garten sich in einen Berghang verwandelt. Hier steht ein kleines Blockhaus für die Kinder. Es ist aus braunem Plastik: eigentlich ein bisschen eklig – die Balken sehen so künstlich aus, ebenso gut könnten sie aus Schokolade sein oder aus einer Art gummierter Kacke. Hinter diesem Ding lungere ich herum und bin so bemüht, respektabel dabei auszusehen – lehne mich gegen den Zaun, glätte meinen Rock, krame verstohlen in meiner Handtasche nach Fluppen –, dass ich ihn erst sehe, als die Zigarette bereits angezündet ist. So fällt mein erster Blick auf Seán (hier, in dieser Geschichte über Seán, die ich mir selbst erzähle) durch eine sich verdichtende Dunstwolke hindurch: sein Körper, die Figur, die er vor der Aussicht abgibt, verschleiert vom Rauch einer lang entbehrten Marlboro Light.
    Seán.
    Einen Augenblick lang ist er vollkommen er selbst. Gleich wird er sich umdrehen, aber das weiß er noch nicht. Er wird sich umdrehen und mich erblicken, so wie ich ihn erblicke, und danach wird viele Jahre lang nichts passieren. Es gäbe auch keinen Grund dafür.
    Es fühlt sich wirklich wie Abend an. Das Licht ist wundervoll und grundverkehrt – es ist, als müsste ich den ganzen Planeten in meinem Kopf drehen, um in diesen Garten zu gelangen, in diesen Abschnitt des Nachmittags und zu diesem Mann, diesem Fremden, neben dem ich jetzt schlafe.
     
    Eine Frau kommt hinzu und redet leise mit ihm. Er hört ihr über die Schulter hinweg zu, dann wendet er den Kopf noch weiter, um ein kleines Mädchen zu betrachten, das sich hinter den beiden herumdrückt.
    »Mein Gott, Evie«, sagt er. Und seufzt – denn nicht das Kind irritiert ihn, sondern etwas anderes; etwas Größeres und Schmerzlicheres.
    Die Frau geht zurück, um Evies verschmiertes Gesicht mit einer Papierserviette abzuwischen, die auf der klebrigen Haut zerfusselt. Seán beobachtet dies einige Sekunden lang. Und dann blickt er zu mir herüber.
    Diese Dinge passieren ständig. Man begegnet dem Blick eines Fremden, sieht einen Moment zu lange hin, schaut dann weg.
    Ich war gerade aus den Ferien zurück: eine Woche bei Conors Schwester in Sydney, dann nach Norden zu diesem sagenhaften Ort, wo wir Sporttauchen lernten. Meiner Erinnerung nach lernten wir dort auch, wie man nüchtern Sex hat – ein simpler, aber guter Trick. Es war, als würde man eine zweite Haut abstreifen. Vielleicht konnte ich deshalb Seáns Blick standhalten. Ich war gerade am anderen Ende der Welt gewesen. Für meine Verhältnisse sah ich ziemlich gut aus. Ich war verliebt – richtig verliebt – in einen Mann, den ich bald zu heiraten beschließen würde, sodass ich es nicht mit der Angst zu tun bekam, als Seán mich ansah.
    Vielleicht hätte ich es mit der Angst zu tun bekommen sollen.
    Und ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie Evie an jenem Tag aussah. Sie muss vier gewesen sein, aber ich weiß nicht, wie viel davon noch in dem Mädchen steckt, das ich heute kenne. An jenem Nachmittag sah ich lediglich ein Kind mit einem verschmutzten Gesicht. Insofern ist Evie nur eine Art Schmierfleck auf einem ansonsten vollkommen klaren Bild.
    Denn es ist schon verblüffend, wie viel ich mit diesem ersten flüchtigen Blick begriff – wie viel ich, im Nachhinein betrachtet, hätte wissen müssen. Alles ist da: die erste Regung meines Interesses an Seán, die ganze Sache mit Evie; daran erinnere ich mich noch sehr deutlich, ebenso an die akkurate und unerschütterliche Höflichkeit seiner Frau. Ich wusste sie sofort einzuschätzen, und nichts von dem, was sie später tat, hat mich je überrascht oder widerlegt. Aileen, die nie ihre Frisur änderte, die damals Größe 36 hatte und diese für alle Zeiten

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