Anatomie einer Affäre: Roman
Augen.
»Wie alt bist du überhaupt?«
»Na, fast zehn.«
»Nun ja«, sagte ich, »das verheilt schnell.«
»Suchst du deinen Mantel?«
»Noch nicht«, antwortete ich.
»Er ist im Au-pair-Zimmer«, sagte sie und sprang auf, um ihn mir zu zeigen, für alle Fälle. Glücklicherweise kamen jetzt auch andere Leute, um ihre Sachen zu holen: drei Männer, deren Masse die Treppe vom Geländer bis zur Wand ausfüllte. Ich musste warten, bis sie vorbei waren, ehe ich wieder nach unten gehen konnte.
Während meiner Abwesenheit hatte die Party einen Zahn zugelegt. Das passiert unweigerlich, auch wenn man nie den Moment erwischt, in dem es passiert: jenen Sekundenbruchteil, wenn Unbehagen zu Vertrautheit wird. Das ist mir die liebste Zeit. Die, die tranken, hatten zu viel getrunken, und auf die, die fuhren, kam es nicht mehr an. Ich holte mir noch einen Weißwein und glitt auf einem herrlichen Geräuschteppich durchs Zimmer, bis ich mich Knall auf Fall neben meinem Schwager wiederfand, der mir zubrüllte, er habe drei Jahre lang Antidepressiva geschluckt, bevor er meine Schwester kennenlernte.
»Einfach zur Linderung, weißt du?«
Nein, wusste ich nicht. Mein Schwager ist Ingenieur. Wenn es um Arbeitsschutzbestimmungen auf seinen Baustellen geht, wird er ziemlich verkrampft – und zusätzliche Einblicke in sein Gefühlsleben brauche ich nicht, danke vielmals.
»Ich konnte kaum noch ohne«, sagte er. »Drei Jahre lang, weißt du?«
»Kann ich mir vorstellen.«
Seán schaute mit einer Flasche Weißwein vorbei.
»Bist du betrunken?«, fragte er leise.
»Nicht so richtig.«
»Und warum zum Teufel nicht?«, rief er und schüttete noch mehr Wein in mein Glas. Dann tat er das Gleiche bei Shay.
»Mein lieber Mann, Shay, ihr seid verwandt!«
»Ich bitte dich«, sagte Shay mit unschuldig erhobener Hand.
»Wie? Glaubst du etwa, du hast die bessere Partie gemacht?«, sagte Seán. Dann drehte er sich zu mir um und zwinkerte mir zu.
Es war eine interessante Taktik, mit jemandem zu flirten, mit dem man nicht mehr flirten musste. Ich erkannte die Logik dahinter. Aber ich dachte auch, dass seine Augen ein bisschen wild waren.
Evie war nach unten gekommen. Ich sah, wie sie vor einem der Typen von der Uni stand und ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Der alte Mann streckte die Hand aus und nahm den Stoff ihrer Bluse zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Komm mal eben her zu mir.«
Ihretwegen wünschte ich, dass wir alle nüchtern wären: Wie alt bist du jetzt? Sie wand sich und zuckte und sah aus, als würde auch sie es genießen. So grässlich es war, von diesen Leuten beachtet zu werden (die sind nichts Besonderes, wollte ich ihr zurufen, sind nicht gerade umwerfend), sie lächelte nur und verdrehte die Augen zur Wand, bis ihre Mutter kam, um sie loszueisen. Aileen legte ihre Hände auf Evies Schultern und ließ das Kind darunter hinwegschlüpfen, und Evie verschwand zwischen den Erwachsenen und erzeugte auf ihrem Weg durchs Zimmer kleine Turbulenzen aus erhobenen Gläsern.
Unterdessen schien ihr Vater, wann immer ich ihn erblickte, mit jemandem zu flirten. Es wirkte unverfänglich, denn Seán war nicht hochgewachsen. Wenn er sich vorbeugte, um eine Frau zu necken oder ihren Ehemann in ein ernsthaftes Gespräch zu verwickeln, wirkte er einfach nur freundlich. Aber es wollte einfach nicht aufhören. Auch das fiel mir auf. Die Art, wie er jeder Frau die Hand auf den Rücken legte, damit sie deren Wärme spürte.
Ich konnte nicht eifersüchtig sein. Unter den gegebenen Umständen wäre das etwas albern gewesen.
Abgesehen davon schien es seiner Frau nichts auszumachen. In der Diele traf ich erneut auf sie. Fiona wollte gerade nach Hause fahren, und es gab viel Getue, wann man sich wiedersehen würde.
»Ooch, du bleibst doch aber noch!«
Sie berührte mich am Arm. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich – ich suche nach dem passenden Wort – gernhatte . Als besäße ich etwas, das sie nostalgisch und hoffnungsvoll stimmte, etwas, das ihr einen Stich versetzte.
»Was immer passiert, Seán kann dich begleiten. Das kannst du doch, Seán?«
»Wie bitte?« Er stand in dem großen Zimmer und wandte uns den Rücken zu.
»Fionas Schwester begleiten.«
»Was?«
»Keine Sorge«, erwiderte ich. »Wie ich meiner Schwester nun schon mehrfach erklärt habe, kann ich mit Fiachra in die Stadt zurückfahren.«
Denn Fiachra und seine Bauchige Blüte waren auf der allerletzten Party ihres Lebens – sie hätten
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