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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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Kiss)
     
    Nach der Party wurde es erst einmal stiller. Es war eine Intimität entstanden, die uns – oder mir – nicht behagte. Immer wieder sah ich im Geiste den oberen Treppenabsatz vor mir, und als ich die Hand ausstreckte, um Seáns Schlafzimmertür zu öffnen, schien ich in all dem Weiß zu wachsen und zu schrumpfen. Dann schrak ich zurück in die Realität, wo sich noch immer der Taxifahrer beschwerte oder irgendeine Besprechung zu einem unbefriedigenden Abschluss kam und ich vor den Unterlagen sitzen blieb, die auf dem Tisch verstreut lagen.
    »Bis Dienstag.«
    »Ja. Ja, klar.«
    Nicht nur mir ging es so. Zu Jahresbeginn herrschte eine Art Flaute, als würde der Atem angehalten. Der Chef weilte in Belize – ausgerechnet –, um eine Villa zu besichtigen. Fiachras Baby lehnte es ab, auf die Welt zu kommen. Seáns Bericht war erst Anfang Februar fällig, aber niemand schien sich mehr für Polen zu interessieren. Ich weiß nicht, wie sich das in Euro und Cent umsetzte, es ist mir nur als Stimmung erinnerlich: dass die Stadt Warschau, durch deren Straßen ich erst kurz zuvor gelaufen war, mir ebenso fremd erschien wie zu der Zeit, als ich das polnische Wort für Donnerstag noch nicht kannte und nicht einmal ahnte, dass ich es je würde wissen wollen. Wer hätte gedacht, dass mir, die ich als braves irisches Mädel aufgewachsen war, diese Sprache solches Vergnügen bereiten würde? Und diese polnischen Männer, meine Güte, so stolz und sexy, wenn sie sich verbeugten und – einige taten das wirklich – meine ausgestreckte Hand küssten. Ich meine, ich hätte mir dort fast eine Wohnung gekauft. In jenem Januar 2007 nahm sich alles etwas fragwürdig aus. Der Tag draußen vor dem Fenster weigerte sich, länger zu werden. Sogar der Planet nahm sich Zeit.
    Eines Tages gegen Mitte des Monats klingelte mein Handy. Beim Anblick der unterdrückten Nummer wusste ich sofort, dass Seán am anderen Ende war. Die Stille, die auf sein »Hallo« folgte, bot mir Spielraum für alles Erdenkliche. Oder auch für gar nichts. Ich war bereit – war es stets gewesen –, einfach davonzulaufen.
    »Hallo«, sagte ich.
    »Wann kann ich dich sehen?«, fragte er.
    Es war, als hätte mich eine Kugel getroffen, so jäh und unvermutet durchfuhr mich der Schmerz. Ich blickte an mir herunter, als wollte ich die Nachricht mit meinem Körper teilen oder nachprüfen, ob noch alles an seinem Platz war.
    Wieder gingen wir ins Gresham. Seán lief im Zimmer auf und ab und sagte: »Herrgott, wir müssen uns irgendetwas suchen.«
    Ich ergriff ihn von hinten und legte mein Gesicht an seinen Rücken. Ich langte nach seinen Händen und kreuzte sie auf seinem Bauch, als wollte ich ihm versichern, dass die Party vorüber sei und Weihnachten auch, dass alles, was geschah – falls überhaupt etwas geschehen war –, sich außerhalb der Zeit ereignete.
    Er aber war grimmig und geistesabwesend, und hinterher lag er da und starrte die Decke an. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und schob sie über die Augen, die sich darauf gleich wieder öffneten.
    Wenn ich ein Bild aus jener Zeit unseres Lebens vor Augen habe, so ist es dieses: Seáns Gesicht, das sich unter seinen Händen verbarg, der Hals rot bis zum Schlüsselbein und der Rest seines Körpers eigenartig weiß. Wenn ich es mir vergegenwärtige, gibt es noch mehr: die bräunliche Röte seines Geschlechtsteils, das schlaffe gelbe Kondom, das ergrauende Brusthaar. Oder ich sehe seine intelligenten Hände mit den kantigen Fingerkuppen, die ich liebte, unter ihnen seine Augen, grau wie das Meer im Januar.
    Er drehte sich auf die Seite und streichelte mein Gesicht. Er sagte: »Du bist hinreißend, weißt du das?«
    »Du bist auch nicht so übel«, erwiderte ich.
    Seán reichte seinen Bericht ein, und der Chef nahm ihn mit nach Hause, und danach geschah nichts; ebenso gut hätte er ihn gar nicht erst zu verfassen brauchen.
    Und so ging es weiter. Der Winter weigerte sich, Frühling zu werden, und eine Zeit lang sah es so aus, als wüssten wir, was wir taten. Wir trafen uns jeden zweiten Freitag und gelegentlich, wenn er es hinbekam, auch an den Freitagen dazwischen.
    Anfangs wählte ich meine Kleidung mit großem Bedacht. Aber wir waren so selten angezogen; nach einer Weile trug ich nur noch Sachen, die nicht zu sehr verknitterten, wenn sie auf dem Fußboden landeten.
    Ein Hotelbett mit weggeschleudertem Federbett hat etwas so Offenes, wie ein Sockel oder eine gepolsterte Bühne, und die Formen unseres

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