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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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angelangt war.
    Ich hatte erwartet – ich weiß nicht, was; vielleicht eine Art Zusammenstoß. Ich hatte Lust erwartet. Stattdessen hatte ich es mit einem Mann zu tun, der mich durch Pupillen musterte, die so offen und so schwarz waren, dass man die Iris nicht erkennen konnte. Was ich sah, als ich mich umdrehte, war Seán.
    Ich küsste ihn auf den Mund.
    Ich küsste ihn. Und im Vergleich zu anderen Küssen war dieser beinahe unschuldig; möglicherweise eine Sekunde zu lang. Vielleicht zwei. Und als die zweite Sekunde begann, hörte ich Evie bei unserem Anblick quieken; gegen Ende des Kusses die Stimme ihrer Mutter unten: »Evie! Was machst du da oben?«, worauf das Kind über die Schulter blickte, während ich die Augen leicht komisch zur Tür verdrehte.
    Seán löste sich von mir. Er holte tief Luft. Er hielt mich bei den Hüften. Er sagte: »Frohes neues Jahr!«
    Ich sagte: »Dir auch ein frohes neues Jahr!«, und Evie hob die Arme von den Seiten und begann mit den Händen zu wedeln.
    »Frohes neues Jahr!«, rief sie und stürzte sich auf ihren Vater. »Frohes neues Jahr, Papa!«
    Er beugte sich hinab, um auch sie zu küssen, ein Küsschen auf die Lippen, und sie umschlang ihn mit den Armen und drückte ihn fest und fester.
    »Uff! Ächz!«, machte ihr Vater.
    Dann drehte sie sich zu mir um.
    »Frohes neues Jahr, Gina!«, sagte sie.
    Und sie hob mir ihr Gesicht entgegen, damit auch ich sie küssen konnte.
    Wir sammelten die Mäntel ein, und Evie ging uns voraus. Sie legte ihre weiche weiße Hand aufs Geländer und stieg achtsam die Treppe hinab. Ein Söckchen war heruntergerutscht, und wo das Gummiband sein rotes Andenken hinterlassen hatte, sah man die Riffelungen an ihrer Wade. Ihr Haar war leicht zerzaust, ihre Wange, wie ich beim Küssen gemerkt hatte, klebrig von gestohlenem Zucker. Sie hatte sich heimlich mit White Linen besprüht, doch aus ihren Kleidern drang der müde Geruch eines Körpers, der sich seiner selbst noch nicht sicher ist. Sie schien so stolz; wie ein kleiner Herold voller Botschaften, die sein Begriffsvermögen übersteigen.
    Die Haustür war offen, und auf der Schwelle stand Dahlia mit dem Gesicht zur Nacht, während Fiachra noch im Wohnzimmer herumtrödelte und ein letztes Glas leerte. Als wir die Treppe herabkamen, streckte die schwangere Frau die Arme über dem Kopf. Von hinten sah sie etwas weniger fett aus; ihre Wirbelsäule beschrieb eine schöne, kräftige Kurve, während ihr verdeckter Bauch sich zum Himmel hob.
    Sie ließ die Hände sinken.
    »Heimwärts«, sagte sie und wandte sich zu mir um. »Bist du so weit?«
    Aileen nötigte Fiachra in die Diele, dann legte sie den zukünftigen Eltern die Mäntel über und gab beiden einen Kuss. Anschließend küsste Seán sie. Dann küsste Seán mich auf die Wange, drückte aber gleichzeitig mit den Händen meine Schultern weg, sodass es kein richtiger Kuss war, sondern eher ein Voneinander-Abprallen. Dann umarmte mich Aileen und trat einen Schritt zurück, um mich zu betrachten. Sie legte eine bewundernde Hand auf mein Haar, genau über dem Ohr, und sagte: »Du musst bald wiederkommen«, und ich sagte: »Ja.«
    »Und Donal auch.«
    »Conor.«
    »Ja«, sagte sie. »Gute Nacht. Gute Nacht!«, und sie sah zu, wie wir in den Wagen stiegen und davonfuhren. Ihre Silhouette hob sich zusammen mit der ihres reizenden Mannes und ihrer reizenden Tochter im Türrahmen ab.
    »Gott«, sagte Fiachra und rutschte im Beifahrersitz vor mir tief nach unten, während seine Frau grunzend die Gangschaltung betätigte.
    »Herr im Himmel. Ich dachte schon, wir kommen da nie raus.«
     
    Seitdem habe ich oft darüber nachgegrübelt, wie viel Aileen wusste oder nicht wusste. Als die ganze Sache aufflog, sagte Seán, sie habe es »einfach nicht wahrhaben« wollen. Er sagte: »Du hast ja keine Ahnung.« (Was ich mir alles gefallen lassen muss.) Aber sie müssen es doch mitbekommen, diese Frauen. Auf irgendeiner Ebene müssen sie doch wissen, was da abläuft. Ich weiß, es klingt brutal, aber ich finde, wir sollten uns eingestehen, was wir wissen. Wir sollten wissen, warum wir etwas tun. Sonst gibt’s nur Schererereien. Sonst schlagen wir alle nur wild um uns.
    Als Conor am nächsten Tag irgendwann nach Mittag zur Tür hereinkam, sah er mich nur an. Ich lag auf dem Sofa, die Fernbedienung in der Hand. Ich hatte einen Schlafsack über mich gebreitet und schaute mir Die Simpsons an. Dann fragte er: »Wo ist das Auto?«

The Shoop Shoop Song (It’s in His

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