Anatomie einer Affäre: Roman
auf den neonerleuchteten Korridoren des nächtlichen Krankenhauses tat und in das Zimmer, in dem sie lag: an alle möglichen Apparaturen angeschlossen und zum Abgang bereit. Fiona traf mit Shay ein. Er und Conor unterhielten sich vor der Tür mit einem Arzt. Sie holten uns Kaffee aus einem Automaten. Hin und wieder kamen Leute vorbei. In der Ferne hörte man das schwache Klacken eines Gehgestells, einen schrecklich feuchten Hustenanfall. Bis in die frühen Morgenstunden saßen wir bei ihr.
Ich weiß nicht, ob ich meine Schwester hasste oder liebte, wie sie so ein paar Schritte von mir entfernt im Zimmer saß. Jedes Mal, wenn ich zu ihr hinübersah, wirkte sie seltsam weit weg und als hätte sie nicht das richtige Alter.
Sie ist winzig, Fiona. Ich war ihr bereits mit elf über den Kopf gewachsen. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, schwanger zu werden, mit diesem kindlichen Becken; es schien einfach nicht stimmig. Und da saß sie nun, das Knie neben dem bleichen Gesicht, den Stiefelabsatz auf die Stuhlkante gestützt. Wie soll man sitzen, wenn die Mutter im Sterben liegt, wenn die Mutter effektiv schon tot ist? Ich saß so, wie Joan es mir beigebracht hatte: mit geraden Schultern, die Hände locker im Schoß gefaltet, die Beine gekreuzt und leicht angewinkelt, damit die Oberschenkel länger wirken. Wie eine Stewardess. So saß ich, als meine Mutter starb.
Zu ihrer Zeit war meine Mutter eine große Schönheit gewesen; schöner als ihre beiden Töchter, und alle ihre Knochen waren schlank und lang.
Conor teilte uns mit, der Arzt wolle sie sterben lassen, sobald wir dazu bereit wären. Er sagte dies, ohne jemanden anzusehen. Zuvor hatte er sich auf seinem Stuhl vorgebeugt, Joans Hand angehoben, die Handfläche an seine Wange geführt und sie dann wieder auf die Tagesdecke gelegt. Eigentlich wollte ich nicht, dass er sie berührte, wollte nicht, dass überhaupt etwas geschah. Und an weitere Gespräche zu diesem Thema kann ich mich nicht erinnern, doch gegen ein Uhr morgens kam der Arzt, oder was immer er war, herein und berührte meinen Arm. Er hatte schöne, teilnahmsvolle Augen. Er sagte mir, sein Name sei Fawad. Dann legte er ein paar belanglos wirkende Schalter um, während eine Krankenschwester die Schläuche entfernte. Ehe er den Raum verließ, berührte er noch einmal meinen Arm, und ich war froh, ihm begegnet zu sein. Es mag absurd erscheinen, aber mir war, als habe er eine große Seele.
Das war um ein Uhr früh. Joan lag noch zwanzig Minuten da und atmete. Ihr schönes Gesicht hatte eine dunkelblaue Färbung, ihre Lippen waren violett mit schwarzem Rand, und ihr Kinn sah ganz unnatürlich aus, so als sei der Kiefer ausgerenkt. Sie war nicht glücklich.
Um zwanzig nach eins bat uns eine Schwester, für ein paar Minuten den Raum zu verlassen. Sie schlug uns vor, eine Tasse Tee zu trinken, und schloss die Tür hinter uns. Ich weiß nicht, was sie da drinnen trieb. Ich glaubte, ein saugendes Geräusch zu hören, ähnlich wie beim Zahnarzt, aber niemand sprach davon, auch später nicht, und als wir hineingingen, war Joan wieder sie selbst, blass. Es hatte den Anschein, als würde sie schlafen, ihr hauchiger Atem kam stoßweise, und ihr Gesicht wirkte weiser, als ich es je zuvor gesehen hatte. Sie sah sehr schön aus. Ihr Gesicht verwandelte sich in die Idee eines Gesichts. Nicht ganz das, welches ich in Erinnerung hatte. Nicht ganz das ihre. Es sah aus wie ein Gesicht, das ihres werden könnte, sollte sie je aufwachen und es für sich beanspruchen.
Ich glaube, ich war die Letzte, die begriff, dass sie tot war.
Es war ein Gefühl wie beim Aufwachen – die Erkenntnis, meine ich –, erst geschah es ganz langsam und dann irgendwie nur noch im Rückblick. Wir waren zusammen in einem Raum; alle saßen wir in diesem Raum. Ich verspürte die Regung zu kichern. Wir wussten nicht, was wir tun oder ob wir bleiben sollten.
Conor erhob sich und trat hinaus auf den Korridor, und ich glaubte schon, er wolle sich davonmachen. In Wirklichkeit organisierte er nur die nächsten Schritte. Die Schwester kam zurück, und obwohl sie uns nicht zum Gehen aufforderte, wussten wir doch, dass wir das Anrecht auf unsere Mutter und auf den Raum verloren hatten. Wir waren nicht länger erwünscht. Die Schwester sagte: »Lassen Sie sich Zeit. Lassen Sie sich Zeit.«
Ich trat ans Bett und sagte ziemlich laut – ich meine, ich sagte in normalem Gesprächston: »Ich werde dich nicht küssen, mein Schatz.« Dann berührte ich ihre
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