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Anatomie einer Affäre: Roman

Anatomie einer Affäre: Roman

Titel: Anatomie einer Affäre: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright , Hans-Christian Oeser , Petra Kindler
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uns. Wir machten einen auf verliebt oder auf nicht verliebt, und als es schließlich doch noch zum Sex kam, war er nicht gerade berauschend, und am Morgen packten wir unsere Siebensachen und fuhren nach Hause.
    Am Bahnhof blieb ich im Auto sitzen und sagte zu ihm: »Nie wieder.«
    Er schloss kurz die Augen und sagte: »Nie wieder.« Und wir wussten nicht, ob wir uns küssen sollten oder nicht, darum stieg ich einfach aus, und er ließ den Kofferraum aufklicken und kam wie ein Taxifahrer nach hinten, um meine Tasche herauszuheben. Er sagte: »Gute Fahrt«, und ich sagte: »Danke.«
    Ich hatte einen Fenstersitz, von dem aus ich die Landschaft überblicken konnte, die Steinmauern von Sligo, die ins Torfmoor von Leitrim übergingen. Als wir den Shannon überquerten, war ich in ihn verliebt. In Mullingar war mir, als müsste ich sterben, wenn ich ihn nicht in Kürze wiedersähe.

Ev’ry Time We Say Goodbye
     
    Drei Wochen später, am fünften Mai, mitten am Nachmittag, brach meine Mutter zusammen und wurde im Krankenwagen zum Tallaght Hospital gebracht. Zum Glück – wenn man es Glück nennen kann – befand sie sich außer Haus, als es passierte. Zu dem Zeitpunkt hielt sie sich in der Nähe des Bushy Park auf, aber was sie dort tat, war ein Rätsel. Joan ging nie in diesen Park. Sie sagte immer, er sei zu nah, um sich mit ihm abzugeben, und nach den ersten zwanzig Jahren oder so habe sie aufgehört, sich wegen all der ungenutzten frischen Luft schuldig zu fühlen. Doch genau vor dem Parktor hatte sie nach der Motorhaube eines Autos gegriffen und sich dann auf die Straße gesetzt. Wir wussten nicht, ob sie auf dem Hin- oder auf dem Rückweg war; die Sache mit dem Auto hörten wir von einer Frau aus einem der Häuser gegenüber, die uns die Geschichte nach der Beisetzungsfeier in der Kirche von Terenure erzählte. Und keine Frage: Es war eine gute Geschichte.
    »Ich habe nicht gesehen, wie sie auf dem Boden gelandet ist«, sagte sie. »Sie war auf der anderen Seite des Wagens und sank einfach hinab. Als ich aus dem Haus kam, saß sie mit ausgestreckten Beinen da, eigentlich genau wie ein Kleinkind, und ihr schöner Kamelhaarmantel lag aufgefächert hinter ihr auf dem Fußweg. «
    Diese Frau, die uns und meine Mutter und ihre verschiedenen Mäntel zu kennen schien, wollte mir ein Mobiltelefon aushändigen.
    Ich wollte es nicht annehmen. Ich sah nicht ein, warum.
    »Ich habe es später gefunden, als das Auto schon weggefahren war.«
    Wir waren ziemlich sicher, dass es sich um das Handy unserer Mutter handelte, obwohl der Akku jetzt leer war und weder Fiona noch ich es übers Herz brachten, ihn wieder aufzuladen. Wir fragten uns, wie viel Joan wohl wusste oder ahnte – angesichts ihres merkwürdigen Ausflugs in Richtung Park und des Versuchs, kurz vor ihrem Sturz jemanden anzurufen. Wir fragten uns, wie verängstigt sie wohl gewesen war; nicht nur in dem Moment, als sie nach der Motorhaube eines fremden Autos griff, sondern schon in der Stunde oder an dem Tag davor. Und was, wenn es nicht nur der eine Tag war? Beide hatten wir denselben Gedanken: Unsere Mutter hatte seit langer Zeit in Angst gelebt – schon seit Monaten, vielleicht schon seit einem Jahr. Sie hatte in Angst gelebt, und wir hatten es nicht wahrgenommen, und nun war sie nicht mehr in der Lage, unsere Beschwichtigungen zu hören.
    Die Verzögerung der ganzen Angelegenheit hing, glaube ich, mit dem Verlust ihres Handys zusammen. Erst um zehn Uhr desselben Abends erhielt ich einen Anruf der diensthabenden Schwester, die erklärte, unsere Mutter sei eingeliefert worden, ob ich vielleicht vorbeikommen wolle. Ich meine, die Frau war tot, sie war effektiv tot, aber so redet man mit Verwandten in derartigen Situationen wohl. Das wusste ich und wusste es doch zugleich nicht.
    Möglich, dass ich mich deswegen nicht erkundigte, was vorgefallen sei und wie es Joan jetzt gehe. Denn ich wusste, dass mir die Krankenschwester mit ihrer kompetenten, reizenden irischen Mädchenstimme nichts verraten und ich sie dafür hassen würde.
    »Selbstverständlich«, sagte ich. »Ich komme, so schnell ich kann.«
    Und sie nannte mir den Namen der Station.
    Sobald ich den Hörer aufgelegt hatte, rief Fiona an.
    Es war ein Samstag, und obwohl ich mit Leichtigkeit ein paar Gläser Wein hätte intus haben können, war ich nüchtern – vermutlich machte ich gerade eine Diät – und dankbar dafür. Dafür, dass ich genau registrierte, was geschah, dass ich jeden Schritt spürte, den ich

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